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leistet wurde; sie waren, wie M ortensen^)
für die samländischen Verhältnisse eingehend nach
gewiesen hat, vielfach zu anderen Gütern geschla
gen und wurden von dort ans mitbestellt, „als ob
sie besetzt wären". Der Ausdruck wüst bedeutet
denn auch „unbesetzt", d. h. die so bezeichneten
Güter eines Grundherren waren ohne Pächter xl ).
Verstehen wir die urkundliche Ausdrucksweise
in diesem Sinn, dann wird es ohne Schwierigkei
ten verständlich, wenn „Wüstungen" als bewohnt
und bebaut nachweisbar sind. Dann ist es nicht
notwendig, sofort anzunehmen, daß ein Dorf „vom-
Erdboden-verschwunden" ist oder seinen Dorf
charakter eingebüßt hat, denn für den Grund-
Herren war das Dorf eine Wüstung, wenn auch
nur ein relativ geringer Bruchteil seiner Güter
unbesetzt war. Die Bezeichnung „wüste Höfe" und
„wüste Häuser" ist dann ebenfalls nicht mehr miß
verständlich. Auch die Tatsache, daß Dörfer zu
einer Zeit, wo sie sicherlich nicht mehr an ihrem
ursprünglichen Platz vorhanden, die Wohnplätze
also „völlig vom Erdboden verschwunden" waren,
und doch noch in gleicher Weise wie zweifellos be
stehende Siedlungen in Urkunden und Handschrif
ten genannt werden, ist nun ebenfalls zn erklären.
Die Lage des Wirtschaftszentrums, der Hofstel-
len, ob innerhalb oder außerhalb der Gemarkung,
war für die Bezeichnungsweisen Dorf, Hof und
Wüstung belanglos, denn die bäuerlichen Be
hausungen, die in den WeiStümern des Mkttel-
alters nicht als Liegenschaft sondern zur fahrenden
Habe gerechnet wurden 10 11 12 ), waren ein accestori-
scher, ein mehr nebensächlicher Bestandteil der
Siedlung. Der in den Ouellen für eine Siedlung
gebrauchte Ausdruck Wüstung besagt zunächst
lediglich, daß die Zahl der dort vorhandenen
bäuerlichen Güter nicht voll besetzt ist und ge
stattet erst in zweiter Linie Rückschlüsse auf das
teilweise oder gänzliche „Nicht-mehr-vorhanden-
sein" des Wohnplatzes.
Der 2VüstungSvorgang, den wir im Hinblick
auf die Verringerung der bewohnten Hofstellen
als eine „Entstedlung" bezeichnen wollen, brauchte
ja garnicht das Endstadinm, die „totale OrtS-
10) Mortensen, H. SiedlungSgeographie des
Sanilandes. Forschungen z. dtsch. Landes- u. Volks
kunde. Stuttgart 192P
11) Vgl. Lamprecht, K. Deutsches Wirtschafts
leben im Mittelalter. 3 Bde. Leipzig 1885/86. Bd. I.
S. 130: „ man einer ein wüst oder empfeng-
lich gut verbauen wil "
12) Kotzschke, R. Grundzüge der deutschen
Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jhd. Leipzig u. Ber
lin 1921, S. 95.
Wüstung", wie ich diesen genannt habe 13 ), zn er
reichen, sondern konnte in einem früheren Sta
dium zum Stillstand gelangen und damit zur
Bildung von „partiellen Ortswüstungen" führen.
Die partielle Ortswüstung wird entwicklungsge
mäß, wenn sich der Wüstungsvorgang über
einen längeren Zeitraum erstreckt, der totalen
Ortswüstung vorangehen. Doch braucht diese
Vorstufe überhaupt nicht zur Ausbildung zu
kommen, sei es, daß ein Dorf geschloffen an eine
andere Stelle verlegt, sei es, daß es aus anderen
Gründen in kurzer Zeit zum Verschwinden ge
bracht wird.
Können wir so die einzelnen Phasen des
Wüstungsvorganges in ihrer sichtbaren Auswir
kung auf den TVohnplatz der Siedlung erfassen,
so ist die nächste Frage, welche Wüstnngöerschci-
nnngen bei der Feldflur zu beobachten sind. Wir
unterscheiden auch hier ein „partielles" und ein
„totales" Stadium der „Flurwüstung", je nach
dem Grad der Außerdienststellnng der Wirt-
schaftsfläche, die entweder als unmittelbare Folge
erscheinung oder als wirkende Ursache der Ent
stedlung aufzufassen ist. Je nach der besonderen
Eigenart des Wüstungsvorganges wird es dabei
zur Entstehung verschiedener Flurbilder kommen,
das bedeutet, die die Flur betreffenden Wüstungs-
erscheinnngen werden unmittelbar in einer Ver
änderung der Physiognomie des Landschaftsbildeö
zum Ausdruck gelangen. Wird eine Flur völlig
oder nur in einzelnen Teilen aufgegeben, nicht
ivieder neu ausgestellt und sich selbst überlasten,
dann ändert sich ihr pflanzliches Kleid durch
Verwilderung von Nutzpflanzen, durch Be
deckung mit Heide und Gebüsch, durch Bestockung
und Verwaldung: Unland und Wald breiten
sich auf der alten Kulturfläche ans. Die
NutzungSmöglichkeit für den Menschen ist da
mit auf ein Minimum eingeschränkt: wo sich
früher fruchttragende Acker dehnten, liegen nun
Odlandstrecken, die allenfalls noch zur Hute benutzt
und manchmal mit jahrelangen Unterbrechungen
auch wieder einmal ausgestellt werden. Der Grad
der Ertenst'vierung der Bewirtschaftung kann dabei
verschieden sein; die Flnr wird selten völlig auf
gegeben, es entstehen also meist partielle Flur-
wüstungen.
Eine „totale IVüstung" liegt vor, wenn die
gesamte Siedlung, also ihr Wohnplatz und ihre
Feldflur wüst wurden. Das folgende „Wn-
stnngsschema" soll der Veranschaulichung meiner
13) Scharlau, K. Beiträge zur geographischen
Betrachtung der Wüstungen. Bad. geogr. Abh. 10.
Freiburg u. Heidelberg 1933.