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menten durchwirkten solistischen Kantatenstil sucht
er den Weg zur herrschenden Musiksprache. Er
veröffentlicht das Werk in Venedig 1629 — ein
sichtbares Zeichen, daß er im deutschen Raum
noch kaum mit einem lebendigen Widerhall rech
nen konnte. Er ist sich seiner deutschen Sendung
bewußt, zugleich aber auch der Verantwortung,
die er als Führer und Lenker der inneren Ge
schicke der deutschen Musik trägt. Und hier eben
zeigt sich, daß es ihm nicht nur um die Eroberung
neuer Klänge, sondern um die Eroberung eines
neuen Lebens als Grundlage einer neuen deut
schen Kunst ging.
1636—1639 veröffentlicht er seine Geist
lichen Konzerte in Deutschland, wie er
sagt als „Vorboten" seiner „musikalischen
Werke", in Wahrheit ein Sinnbild für die Er
hebung der deutschen Musik, die Schütz vollbringt
trotz der kulturellen Verwirrungen infolge der
„noch anhaltenden gefährlichen Kriegs-Läuffte".
Ein denkwürdiges äußeres Zeichen für Schützens
Gestalterwillen an der deutschen Musik ist hier
— nach den Symphoniae sacrae von 1629 —
der Verzicht auf die Mitwirkung der Instru
mente. Denn er hatte die aus den eigenen inne
ren Bedingtsten wachsende Erhöhung der deut
schen Musik im Sinne, nicht ihren äußeren Glanz.
1647 erscheint der Symphoniae sac
rae II. Teil mit „Werklein in unserer Deut
schen Muttersprache". Bedenken steigen ihm auf,
da er dieses TDerk, mit dem er konsequent seinen
Willen erfüllt, veröffentlicht, „da die auf ita
lienische Art gerichtete Compofition oftmals in
Deutschland so übel angebracht, zerlästert und
gleichsam geradebrechet worden sei, und der löb
lichen deutschen Nation" den Vorwurf einge
bracht habe, daß sie „zur edlen Musik-Kunst gar
ungeschickt sei". Und wie eine mächtige War
nung an die deutsche Mustkerschaft klingen dann
die Vdorte aus der Geistlichen E Her
rn u s i k von 1648, die ein Jahr später erscheint,
der deutsche Musiker möge sich erst das Funda
ment eines guten Kontrapunkts erwerben, ehe er
sich dem neuen „coneertierenden Stylo" zuwende.
Schützens Versuch, die deutsche Musik ihrer Iso
lierung zu entreißen, indem er sie auf den Boden
der herrschenden Mustksprache stellte, war miß
verstanden worden. Er steht, wie die deutsche
Mustkerschaft das Vorbild äußerlich nachahmt,
ohne es sich mit seinen Lebensvorauösetznngen in
nerlich anzueignen und aus Eigenem neu zu for
men. Die Geistliche Chormusik von 1648 stellt
Schütz als Gegenbild auf — in ihr beschwört er
die Kräfte der alten deutschen Tradition, auf denen
er so fest gründete, zu neuer Wirkung. Er wurde
nicht mehr gehört. Schütz sah jetzt seine im wahr
sten Sinne national-kulturpolitische Sendung und
Zielsetzung als gescheitert an und in einem schlim
men Augenblick, da ihm seine besondere Lage am
Dresdener Hofe das Scheitern seines Strebens
auch äußerlich fühlbar macht, prägt er das bit
tere Wort von der Reue, jemals der in Deutsch
land verachteten Musik seine Kraft gewidmet zu
haben. Von da ab hat er nur den Wunsch, in
der Einsamkeit nichts anderem als der Erfüllung
seiner eigenen inneren künstlerischen Bestim-
nmng und Vollendung zu dienen. Aus dieser Ein
samkeit wachsen die Wunderwerke seines Alters,
als letzte Krönung seiner Werkwerdung: die Pas
sionen.
Erfassen wir so den Sinn des Schütz'fchen
Werkes und seines Wirkens und schauen wir
jetzt auf sein Verhältnis zum sächsischen Kurfür
sten, so löst sich vor dem geschichtlich sehenden
Blick die Schuld des Einzelnen auf. Das
deutsche Mustkertum und mit ihm die deutsche
Nation hatten Schütz die Gefolgschaft versagt,
weil fie sein Ziel nicht mitzusehen vermochten.
Und dennoch: Repräsentant dieser Schuld ist und
bleibt der sächsische Kurfürst. Und angesichts die
ses schuldigen Fürsten wenden sich unsere Ge
danken jenem anderen zu, der im Leben des Mäi-
sters einen so wundersamen Raum einnimmt. Als
wahres Gegenbild steigt die Gestalt des Land
grafen M oritz von Hessen empor und
mit ihm klingt der Name jener Stadt auf, die
heute des Meisters Gedenken feiert. Landgraf
Moritz — Kurfürst Johann Georg, Kastei—
Dresden — es find die beiden Pole, in deren
Spannung sich das Leben und Werden von Hein
rich Schütz entfaltete. Und bei dem Schicksal,
das den Meister später traf, erinnern wir uns
des Landgrafen mit doppelter Macht. Die ehe
maligen Beziehungen des großen deutschen Mei
sters zu Kassel und seinem Hofe treten auf dem
Hintergründe des hier gezeichneten allgemeinen
Bildes in ihrer Schickfalshaftigkeit besonders be
deutsam und vieldeutig hervor.
Schütz und Kassel — dag firtd zwei voneinander
untrennbare Vorstellungen. Ja — sie gehören
innerlicher zusammen als Schütz und Dresden.
Denn so wenig das Verhältnis von Schütz zu
Dresden uns als ein sinnvolles Zusammenklingen
menschlicher und geistiger Beziehungen greifbar
wird, so sehr verdichtet sich das Verhältnis von
Schütz zu Kassel zu einem wunderbaren Bilde
von der Begegnung zweier großer Geister der
deutschen Geschichte. Tritt dem älteren Schütz