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»en nicht anch eine allgemeinere Schnld, die der
Nation, nnd im besonderen Sinne die Schnld des
deutschen Ntnfikertnms jener Tage nnd die
Schnld der Träger des deutschen Ntnfiklebens
dieser Zeit?
Versuchen wir die Antwort darauf zu erfragen
durch einen kurzen überschauenden Blick auf das
Wirken und Schaffen des Meisters, wie es fich
uns in seinem tieferen kulturgeschichtlichen Sinne
darstellt! 1614 war Schütz zum ersten Male
nach Dresden an den Hof des Kurfürsten Johann
Georg gekommen. Seit 1617 gehörte er dem
Dresdener Hofe auf immer als Hofkapellmeister
an. Diese Bindung an den Dresdener Hof war
für Schütz gleichbedeutend mit seiner endgültigen
nnd allerletzten Entscheidung zum Beruf des
Musikers, die bis dahin immer nur eine Möglich
keit gewesen war. In dieser Entscheidung ver
dichtete fich sein Wille zum Werk und mit dieser
Entscheidung erkannte er anch seine Bestimmung,
seine große deutsche Sendung: er sah die in der
Nenformnng der dentschen Ntnfik und des deut
schen Ntnfiklebens, in ihrer Erhebung zu euro
päischer Geltung. Dieses große Ziel bestimmt
den Ndandel seines Schaffens wie das Gesetz der
Werkwerdnng von den Psalmen Davids 1619 bis
zur Geistlichen Ehormnstk 1648.
Im Barme zweier gewaltiger Kräfte stand zu
Beginn des 17. Jahrhunderts die deutsche Ntnfik.
Neben das mächtige Fortwirken der nordisch- nie
derländischen Ntnfikknltnr war der hinreißende
und die Sinne bezwingende Zauber der neuen
italienischen Kunst getreten, die nach ihrer Ueber
windung des Niederländertnms mit zuknnfts-
trächtiger Kraft das Tor der musikalischen Neu
zeit anfgestoßen hatte und einem neuen freien, auf
sich selbst gestellten musikalischen Schöpfertum den
Weg wies. In die Spannung dieser Machte
ward die deutsche Ntnfik hineingerifsen, ohne sie
jedoch bewußt ergreifen und meistern zu können.
Heinrich Schütz — als ein über den Bezirk des
Nnr-Ntnstkantischen weit hinaufsteigender musi
kalischer Seher von dichterischer Kraft — ist es,
der in dieser Spannung den Vnell eines neuen
Werdens erkennt, den entscheidenden Ansatzpunkt
für die Gestaltwerdung einer neuen dentschen
Ntnfik, die nach Jahrhunderte langer Isolierung
den Weg suchte zu Prägungen von allgemeiner
Gültigkeit. Langsam und in großen Etappen
von Vverk zu Vverk fortschreitend verwirklicht er
diesen Gedanken. Die Ausformung der deutschen
Musik zu' einer großen, repräsentativen Kunst
war sein Ziel — zu einer Kunst, die weder italie
nisch noch nieoerländisch, aber ans der Gegen
spannung beider erwachsend, dem ewigen Willen
oeö dentschen Mufikgeisteö zu zusammenfassender,
überhöhender und gipfelnder Prägung folgend,
wahrhaft deutsch sein sollte und die deutsche Ntn-
fik befreien mußte vom Zwange ihrer fremden
Vorbilder. Nicht nur um einen neuen dentschen
Stil in der Ntnfik ringt Schütz. Sondern zu
gleich kämpft er um ein eigenes deutsches künstle
risches Lebensbewnßtsein, um eine neue deutsche
Lebensform, die in und durch die Kunst fich prägt
und im künstlerischen Bewußtsein gipfelt.
In den mächtigen, hochränmigen, groß archi
tektonischen Klängen der Psalmen Davids
von 1619 erobert er der deutschen Musik
eine bisher noch nicht dagewesene Weite und Ge
walt der Klangsprache. In der Ntacht der
mehrchörigen Klangpracht prägt fich sein Wille
zu repräsentativer Gestaltung der Kunst und des
Lebens. Die venezianische Ntehrchörigkeit Gio
vanni Gabrieliö ist sein Vorbild, das er stch an
eignet, um es zu überwinden. Und jetzt erst be
ginnt seine eigentliche Arbeit an der Formung der
dentschen Ntnfik. Nachdem er die Psalmen Da
vids nur gleichsam beispielhaft hingestellt hatte, als
Kundgebung seiner inneren Geschichte, wendet er
sich in der Historie von der Auferste
hung 1623 und in den Cantiones
sacrae 1625 den dentschen Bedingungen und
Verhältnissen zu, und ist bemüht um ihre Em-
porführnng zu darstellerischer Höhe. Die Histo
rie von der Auferstehung knüpft un
mittelbar an ein deutsches Vorbild an. Schütz
— höchst bezeichnend — modernisiert es und sucht
so ans der gegebenen Tradition heraus der deut
schen Ntnfik den T8eg zu weisen. In den Ean-
tioii68 sacrae von 1625 führt er dann mit Ent
schiedenheit die Auseinandersetzung mit dem alt
überlieferten Niederländertnm durch, indem er die
gebundene kontrapnnktische Klangsprache mit den
inneren Kräften des „neuen" in Italien gebore
nen Stiles durchwirkt und auflöst. Ans der
Spannung entgegengesetzter Kräfte entstehen hier
Gesänge von unerhörter Leuchtkraft, die, an der
Grenze zwischen alt und neu stehend, in einzig
artiger TEeise den gesetzmäßig waltenden TEillen
des Meisters erkennen lasten, die deutsche Ntnfik
organisch herauszuführen ans dem Zwange ihrer
Gebundenheiten.
Jetzt vollzieht er eine neue Wendung. Eine
zweite Italienreise hat die lateinischen 8 y m ==
phoniae sacrae zum Erlebnis, in denen er
„Kraft und Geist daran gesetzt, etwas nach Art
der neuen TEeife hervorzubringen", die ihm in
Italien entgegengetreten war. Im von Instrn-