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richtung tat. Dennoch treten bei den beiden wich
tigsten Forschern der romantischen Staatöwifsen-
schaft, C. L. von Haller und Adam Müller,
anvere Gesichtspunkte in den Vordergrund: die des
politischen Katholizismus. Es ist noch zu wenig
beachtet, daß die Vertreter der Romantik in Lite
ratur und Kunst zu einem ganz großen Teile zum
Katholizismus übergetretene Protestanten gewesen
sind (man denke nur an Fr. Schlegel, an die Na
zarener u. a.).
Dieselbe Erscheinung trifft aber auch fiir die
StaatSwifsenschaften zu, denn die erwähnten Ver
treter der Romantik, Mmller und Haller, waren
(das Wort ohne irgendwelchen Nebengeschmack
gebraucht) Konvertiten. Vollgraff, der reformiert
war, hat diese Richtung nicht mitgemacht. Es
ist völlig irrtümlich, wenn ihn der — vom Juden
tum zum Protestantismus übergetretene —
Staatsrechtslehrer Stahl der „Hallerschule" zu
rechnet. Im Gegenteil: bei aller Bemühung,
auck dem Katholizismus gerecht zu werden, blieb
Vollgraff seiner Kirche treu, und wenn er ge
legentlich anvere als protestantische Auffassungen
einfließen ließ, so waren sie -eher so, daß ans ihnen
etwas wie Pietät für altgermanisches Wesen zu
lesen ist. So meint er, die Germanen hätten das
Christentum durch ihre Frauen empfangen. „Die
Frage, was wohl aus den germanischen und nordi
schen Völkern geworden wäre, wenn ihnen ihre
Nationalveligion . .. geblieben wäre, ist nicht so
müßig, wie es scheint." An anderer Stelle be
tont Vollgraff, das Christentum habe bei den
Germanen erst Fuß fasten können, als „ste sich
ausgetobt, ihre Kraft sich konsumiert hatte". Es
wäre aber irrtümlich, diese und andere Stellen
zu verallgemeinern. Im ganzen ist Vollgraff
stets für das eingetreten, was heute „positives",
oder „praktisches" Christentum heißt. Dem
„romantischen" hat er ein „heroisches" Staatö-
iveal gegenübergestellt. Damit find wir aber
schon in die Würdigung seines Werks eingetre
ten, die nun, soweit es der Raum und die Schwie
rigkeit der Mmterie zuläßt, fortgesetzt werden soll.
III.
Einen „Deutschen Prometheus" nennt Voll
graff ein Mann, der wohl das größte Verdienst
um ihn sich erworben hat: der Würzburger
Staatsrechtslehrer Joseph Held. Ilm so mehr
müssen wir dies Verdienst anerkennen, als Held
von der katholischen Weltanschauung herkommend
manches ausräumen zu müssen glaubte, was ihm
an Vollgraff unerträglich schien: so dessen „Ma-
terialismus", der sich aber, im Grund genommen,
in etwas auf den Prädestinationsglauben des Re
formierten und auf eine, Vollgraff eigentümliche,
naturphilosophische Ilnterbauung der StaatS-
wistenschaft zurückführen läßt: hier kommen wir
wieder auf Vollgraff als Rastentheoretiker zu
sprechen. Nicht das unendlich viele Einzelne, das
er aus der gesamten (vor allem auch französisch-
englischen) Litergtur der Zeit als Beleg seiner
Auffassung zusammentrug, ist heute noch wichtig,
das allermeiste hiervon wird sogar überholt sein.
Vielmehr entscheidet die Tatsache, daß Vollgraff
die Raste als den unbedingten, konstanten, in alle
Fragen des Volkes, des Staates und der Ge
sellschaft unerbittlich einschneidenden Grundfaktor
geschichtlichen, zeitgeschichtlichen und zukünftigen
Geschehens hinstellt. Damit, so meint Held im
Vorwort zu der von ihm mit großer Treue be
sorgten Neuausgabe des Hauptwerks (des „Neuen
Versuchs in der „Polignoste und Polilogie"
gipfelnd), fei doch der göttlichen Vorsehung vor
gegriffen. Man steht, ein zeitgemäßes Problem,
wie ja fast alle, unsere Zeit bewegenden Fragen
bei Vollgraff vorweggenommen erscheinen! Nun
aber ein Einwand, der, wenn ihm stattzugeben
wäre, Vollgraff unserem Zeiterleben wieder weit
entrücken müßte:
Im Vorwort zum „Frühwerk" (den „Syste
men der praktischen Politik im Abendlande")
meint sein Verfasser:
„Es erfordert die Lektüre dieses Teils starke
Leser, M ä n n e r, welche die Wahrheit z u
ertragen vermögen; denn ich gestehe noch
einmal, mich selbst erschreckt jetzt die hier und da
starr uno nackt hingestellte Wahrheit." lind er sei
doch nicht, wofür man ihn halten könnte, ein
„Nlenschenhafser oder gar Vertheidiger des Des
potismus", vielmehr ein „rechter Vertheidiger
der Volksrechte"!
Vvas hat Vollgraff zu dieser Selbstverteidi
gung veranlaßt? — Dies war seine Meinung,
wonach die Völker seiner Zeit, vor allem die Ger
manen und Slawen, unfähig seien, einen Staat
zu bilden; sie seien, im Gegensatz zu den von ihm
eingehend und liebevoll dargestellten antiken Völ
kern, „staatszentrifngal", nicht „staatszentripetal".
Sie seien „Haus- und Familien-, nicht Staats
völker". — Wäre nun diese Anficht nicht durch
das Schrifttum ihres Autors selbst widerlegbar,
so würde, bei aller Anerkennung der großen Lei
stung, doch kaum von ihr ein Beitrag zur Gegen
wart erwartet werden können.
Die Widerlegung ist aber möglich und gründet
sich auf folgende, durch das ganze Wierk hin be
legbare Grundgedanken: Staaten und Völker,