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Die Textor, oder wie sie früher, ehe sie das huma
nistische Mäntelchen umhingen, hießen, Weber, lei
ten ihren Ursprung aus dem Dörfchen Hestenthal
bei Schwäbisch-Hall, das trotz seinem Beiwort eine
fränkische Stadt ist, her, sie kamen 1561 von da
Ln die kleine feine Hohenlohesche Residenz Weickerö-
heim, wo sie nach einer Zwischenstation, während
der ein TOeber die Stelle eines Hohenloheschen La
kaien und Hofschneiders innehatte, etwa um 1608
zum Studium und zwar zur Rechtsgelehrtheit
kamen, der sie bis ins 19. Jahrhundert treugeblieben
stnd. MA Goethes Urgroßvater erwarben ste 1703
das Frankfurter Bürgerrecht. Der Name des
Wirklichen Kaiserlichen Rats, Reichs-, Stadt-
und Gerichtsschultheißen Johann Wolfgang Tex
tor, dem sein Enkel, der junge Goethe, auch seine
Vornamen verdankte, ist noch unvergesten, wenn
stch auch die Gelehrten in der Beurteilung seines
Charakters und seiner Politik nicht einig find. Von
Textors fränkischen Ahnen seien besonders noch die
in der Gegend von Crailsheim ansässigen Theologen
familien Priester, deren Stammvater zuerst katho
lischer Priester, dann in der Reformationszeit der
erste evangelische Prediger in Feuchtwangen war,
Karg, Ley und die Köhler, die ihrerseits wieder ihren
Ursprung aus Frankfurt nahmen, sowie die ans
Gemünd und Bopfingen stammende schwäbische
Juristenfamilie Enslin genannt. Auch die väter
liche Großmutter Goethes, Cornelia Goethe, geb.
Walther, entstammte von Vater und Mutter her
(die Mutter war eine geb. Streng) fränkischen
Familien aus der Gegend von Weickersheim,
Rothenburg 0. d. T., Dombühl.
Ins Hessische, zumal nach Oberhessen, dem Lande
an der Lahn, und in die Wetterau, der wir die alte
rheinfränkische Hauptstadt Frankfurt angliedern,
weisen die Ahnen der mütterlichen Großmutter
Goethes Anna Lindheimer. — Von Goethes
Urgroßeltern gehörten, wenn wir noch einmal Zah
len reden lasten, zwei nach Thüringen, drei ent
stammen den Hohenloheschen Landen, zwei stnd
Frankfurter und einer Hesse. Nehmen wir die
Reihe der 32 Ahnen, also der Ururgroßeltern, so
können mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zehn da
von für Thüringen in Anspruch genommen werden,
für weitere zehn läßt stch der Ostfränkische Ur
sprung nachweisen, vier stammen aus Hessen, drei
aus der Wetterau und fünf aus der Reichsstadt
Frankfurt. Fasten wir die Hessen, Wetterauer
und Frankfurter, die ja manche Beziehungen zu
einander haben, zusammen, so kommt wieder die
Dreiteilung heraus. Die größere Intelligenz
innerhalb dieser Gruppen scheint auf die Fränki
schen und Hessischen Ahnen Goethes zurückzugehen.
Soweit man sehen kann, beruht der Goethe, wie er
unsterblich bleiben wird, auf dem Blut des Ehe
paares Textor-Lindheimer, der Eltern seiner Mut
ter, wenn man auch neuerdings versucht, den Ein
fluß von der Vaterseite stärker zu betonen, indem
man in dem weitgereisten Großvater Friedrich
Goethe manche „Strömungen in Seele und Geist"
des Enkels bereits vorgezeichnet sehen und fast
„einen genialen Zug in seinem Wesen spüren"
will A ). Man weiß aber so wenig Sicheres von
diesem Mann, daß man eigentlich kaum mehr von
ihm sagen kann, als daß er eine tüchtige Persönlich
keit war, die stch aus eigener Kraft aus kleinen
Verhältnissen heraus eine angesehene Stellung in
Frankfurt errungen hat und sich dessen gerade in
der Nähe Frankfurter Patrizierstolzes zu rühmen
wußte. Gewiß war es für Goethe „auch ein un
schätzbarer Gewinn, daß seine Vorfahren Hand
werker gewesen find", die ihm „herzhafte Kraft zur
sinnvollen Lebensgestaltung mitgegeben haben". Und
wenn auch bei Goethes Vater, der ihm auf den
ersten Blick so unähnlich wie möglich zu sein scheint,
bei genauerer Betrachtung doch so mancher Zug her
vortritt, der sich namentlich bei dem alternden Goethe
wiederfindet >— für die Gestaltung der Geistigkeit
Goethes bedeuten die mütterlichen Ahnen doch erheb
lich mehr. Die T e x t 0 r ein Juristengeschlecht, das
durch eine gleichartige, der Höhe der Bildung der
Zeit entsprechende Erziehung der männlichen Ver
treter während einer Reihe von Generationen und
durch die mit den Töchtern aus gleichartigen und
gleichwertigen Familien (Priester, Enslin) ge
schlossenen Ehen einen bestimmten Charakter von
hoher Intelligenz, Kultur und Bildung erhielt; die
Lindheimer, deren nicht übermäßige geistige
Höhe durch die Ehe von Goethes Urgroßvater, dem
ans einer alten Frankfurter Metzgerfamilie stam
menden Dr. jur. Cornelius Lindheimer, mit Elisa
beth Catharina S e i p aus Marburg ganz beson
ders gesteigert wurde. Denn das Erbgut, das diese
Frau sowohl vom Vater wie von der ^Mutter her
ihren Nachkommen übermachte, war außergewöhn
lich wertvoll und schwerwiegend. Die von Großen-
linden bei Gießen kurz von 1600 nach Marburg
gekommenen S e i p (Wirte, dann Verwaltungs
beamte, Juristen) und die S t e u b e r aus Lißberg
(Theologen in Gießen und Marburg) wie die
S ch e i b l e r aus Gemünden a. d. Wohra (Kauf
leute, dann Theologen, später bis heute als hervor
ragende Industrielle bekannt) und L y n ck e r ans
Marburg, heute in einigen Zweigen geadelt, die
eine Mmge hervorragender Männer in den ver
schiedensten sowohl gelehrten als auch anderen Be
rufen hervorgebracht haben, die Kornmann
4 ) Böthe: „Drei Generationen Goethe", im Archiv
für Sippenforschung 1932, Heft z.