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tigten Bindungen — fortan nicht mehr aner
kenne. Wer längst tiefer in das Getriebe einer un
heilbar politisierten Bildungspflege hineinsah, dem doku
mentierte auch dieses Gingeständnis des Nicht-mehr-
weiter-könnens wie der ganze übrige Abbau der Geistes-
kultur den unvermeidlichen katastrophalen Zusammen
bruch jener utopischen Musik-, Theater- und Kunstpolitik,
die mit ihren Schlagworten und ihrer Demagogie nur die
kurzlebige Inflation einer sogenannten kollektivistischen
Knnstbeglückung heraufführen konnte.
Kassel hat die verhängnisvollen Folgen bei seinem
Staatstheater am empfindlichsten in den meteorhaften
Gastspielen mehr oder weniger prominenter I n -
tcn danken und solcher, die es werden wollten, er
fahren. Man braucht sich nur an die unerquicklichen
Kämpfe um Paul Bekker zu erinnern, an die ge
täuschten Hoffnungen der Ernst Legal- Ara, an das
unhaltbare Provisorium unter Dr. Georg P a u l y, ja
selbst der letzte Intendant Berg-Ehlert hat das Ver
trauen, das man ihm, der mit einem zehnjährigen Ver
trag in der Tasche hierher kam, überreich entgegen
brachte, schlecht gelohnt. Denn im kritischsten Augenblick,
da es wirklich um den Bestand des Kasieler Theaters
überhaupt ging, nahm er die Berufung nach Wiesbaden
an, als dessen Sachwalter er dann sofort wichtige
Kräfte, vor allem den bedeutenden Kasseler Opern
regisseur Friederiri für diese Bühne verpflichtete. Trotz
der Ungunst der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse
konnte sich aber Preußen keinesfalls darauf berufen, daß
die Steigerung der Zuschußsummen von 1^7000
Mark im Jahre 1924 auf 1,2 Mill. für 1931 und die
damit verbundene Unrentabilität des Instituts auf lokal-
wirtschaftliche Ursachen, mangelndes Interesse oder Bc-
sucherrückgang zurückzuführen sei. Sie ist vielmehr die
notwendige Auswirkung jener Verwaltungs- (Beamten-
vermehrung), Intendanten-, Ensemble- und Spielplan-
Pvlitik, für die im letzten Grunde doch die preußische
Regierung selbst verantwortlich ist. Ja man konnte so
gar demgegenüber bündig nachweisen, daß Kassel von
allen preußischen Staatstheatern noch
am wirtschaftlichsten arbeitet. Eine wesent
liche Stärkung hierbei bedeutet die Unterstützung durch
die Fremdenvorstellungen und die beiden großen Theater
verbände Bühnenvolksbund und Volksbühne.
Oie Unmöglichkeit, bei der gebotenen Eile eine befrie
digende Klärung der juristischen Frage herbeizuführen,
zwang nach langwierigen Verhandlungen zu einer vor
läufigen Zwischenlösung, durch die wenigstens
etatsmäßig zunächst der Weiterbestand des Theaters für
ein Jahr gesichert wurde, wobei der preußische Staat
einen bestimmten Zuschuß (entsprechend den für ihn ge
setzlich weiterlaufenden Ausgaben) leistet und Bezirks-
verband und Stadt Ausfallsgarantien in bestimmter
Höhe übernahmen. Unberührt bleibt dabei der h e s -
fische Rechtsanspruch an den preußischen Staat,
weshalb auch kein Anlaß besteht, etwa den Namen des
Staatstheaters zu ändern. Als neuer Intendant wurde
der bisherige Mainzer Theaterleiter Edgar Klitsch
erkoren, der dag bisherige Ensemble soweit möglich wie
der verpflichtete oder ergänzte. Daß auch die Bevölke
rung sich endlich besten bewußt wurde, was auf dem
Spiele stand, bewies die gewaltige überfüllte Kund
gebung der Gesellschaft der Musik- und Theater-
frel'nde am Januar in der Stadthalle, das tatkräftige
Eintreten von Landeshauptmann, Oberpräsidcnt und
Oberbürgermeister und eine allseitige lebhafte Werbung
für das gefährdete wichtigste Kunstinstitut Kassels, das
man umso weniger verlieren durfte, als das Schicksal der
ehrwürdigen Kunstakademie nnd der jungen pädagogischen
Akademie sowieso wohl endgültig besiegelt war.
Man wird sich unter diesen Umständen nicht wundern,
wenn es der S p i e l p l a n weniger denn je unter dem
Druck der unsicheren Lage zu einer einheitlichen Linie
bringen konnte, zumal Zersplitterung und Versagen des
Gegenwartsschaffens sie gewiß nicht erleichterten, es
außerdem ein offenes Geheimnis war, daß im Schau
spiel Oberregisseur Jacob Geis ganz nach seinen
Wünschen schaltete und waltete. Man ehrte natürlich
Goethe (Clavigo, Götz von Berlichingen, Mahomet)
pflichtgemäß, vergaß dabei auch Gerhart Hauptmann
einst und jetzt (College Crampton — Vor Sonnenunter
gang) nicht, rührte an das Problem der Jugend in
Detcktiokomödie (Kästner, Emil und die Detektive) und
Schülertragödie (Förster, Der Graue), besann sich we
nigstens bei Kolbenheyer (Jagt ihn, ein Mensch) auf
zeitgenössische Dichtung, forderte mit einer deplazierten
Georg Herrmann-Premiere (Potsdamer Hochzeit) die
Entrüstung des Publikums heraus und machte den Fehl
griff einigermaßen mit der interessanten Neubearbeitung
der „Elisabethanischen Tragödie" von Jacob Geis (nach
dem alten Arden von Feversham eines unbekannten vor-
shakcspeareschen Dichters) wieder gut und hatte schließ
lich mit dem mehrtägigen Hans Albers-Gastspiel in
„Liliom" seine aktuelle Sensation.
Bester schnitt die Oper entschieden ab, da sie die
Erneuerung von Wagners „Ring des Nibelungen" mit
„Siegfried" und „Götterdämmerung" eindrucksvoll-groß
zügig vollendete, in der Neueinstudierung theater-
wirksamer Opern wie Kienzl s Kuhreigen, Wal
tershausens Oberst Chabert, Schillings Mona Lisa, d'
Albertg Tote Augen u. a. bei künstlerischer Haltung doch
auch dem Publikunisbedürfnis erfolgreich entgegenkam.
Auch die Bevorzugung der musikalischen Ko
mödie (Vier Grobiane, Schalkhafte Witwe, Schnei
der von Schönau) kann als Plus gelten, zumal jetzt
Kassel wirklich ein vielseitiges leistungsfähiges, ausge
zeichnetes Ensemble, einen glänzenden Regisseur in
Hanns Friederici und einen hervorragenden Bild- und
Szenenkünstler in Lothar Schenck von Trapp besaß, die
beide leider nach Wiesbaden abwandern. Besonders an
erkannt sei, daß in den letzten Jahren mancherlei be
dauerliche Versäumn! st e von früher mit Verdi-
Werfels „Macht des Schicksals", Puccinis „Manon
Lescaut" und „Turandot", Rezniceks „Blaubart",
Strauß „Intermezzo", Ianaceks „Ienufa" u. a. nach-
g e b 0 l t wurden. Statt des allzu ästhetisch-exklusiven,
wenn auch märchenhaft-farbigen Mozart-Straußischen
„Idomeneo" hätte man freilich lieber endlich den so oft
verheißenen und immer wieder verleugneten P a le
st r i n a , dieses wunderbare deutsche Werk vom ewigen
Künstlertum erlebt. Ballet- und Tanzkunst wurden
recht stiefmütterlich behandelt, desto fröhlicher tummelte
man sich in sorglosen Operettenregionen von
Boccaccio und der Madame Pompadour bis nach Un
garn und Hawai.
Man sieht, es sind immer noch genug organisatorische
und künstlerische Grundlagen da, die schon zu der inne
ren und äußeren Gesundung eines wirklichen Kultur-
theaters führen können, wenn ein energischer deutsch
bewußter Wille dahinter steht. Im übrigen darf man
hoffen, daß die in der Krisis sich vollziehende geistige
Wandlung dag ihre tun wird und man am Ende auch
in Berlin einsehen muß, daß zwischen Hannover und
Frankfurt kein luftleerer Raum ist, sondern Menschen
wohnen, die nicht gesonnen sind, ihr kulturelles Eigen-
dasein einer nivellierenden Reichsreform zum Opfer zu
bringen.