Full text: Hessenland (42.1931)

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Ergänzend triff hinzu die Kultur- und Bil 
dungsgeschichte, die Volkskunde. Und auch hier 
stoßen wir wieoer auf zahllose Fragen, die ein 
gehendster Studien bedürfen. Wir brauchen nur 
das Volk im täglichen Leben zu beobachten. V 2 ie 
verschieden sind allein in den einzelnen Teilen des 
Hessenlandes die Volksbräuche bei Geburten und 
Todesfällen, bei Hochzeiten und Kindtanfen, bei 
Volksfesten und kirchlichen Festen, bei der Ernte 
und beim Schlachten, nicht zum wenigsten auch rn 
der Kleidung. Gewisse, teilweise noch aus der heid 
nischen Zeit stammende Vorstellungen haben ssch 
brs zum heutigen Tage erbalten. Mag auch der 
aufgeklärte Mansch der Gegenwart sse als Aber 
glauben mit einem Achselzucken abtun, sse spielen 
deshalb doch ihre gewichtige Rolle im Volksleben 
und find charakteristisch für die Denkungsart des 
schlichten Nrannes ans dem Volke; sse ssnd ihm 
heilig. Im engsten Zusammenhange mit ihnen 
stehen die Sagen und Märchen, die Volkslieder 
und Spiele, die Sprichwörter und Redensarten. 
Die Wetterregeln des Bauern und die Volks 
medizin find auf generationenlange Beobachtungen 
gegründet und halten, wenn auch nicht in jedem 
Falle, so doch zum mindesten gar nicht selten den 
Ergebnissen der exakten wissenschaftlichen For 
schung von heute stand. Und auch hier wieder müs 
sen wir sagen: Welch erstaunliche Fülle der Ge 
sichte tritt uns da entgegen, allein auf dem Boden 
unserer engeren, hesssschen Heimat.' 
Von den eben berührten religiösen Vorstellungen 
und Anschauungen zur Religions- und Kirchenge 
schichte ist nur ein kleiner Schritt. Bedeutsam ist 
die Rolle Hessens in der Zeit der Ebristianisserung 
des inneren Deutschlands, als Bonifatius unser 
Heimatland missionierend durchzog und die Kirchen 
verfassung organisierte. Hessens Anschluß an die 
Lehre Luthers wurde bereits gestreift. Philipps des 
Großmütigen Enkel Moritz der Gelehrte führte 
dann bekanntlich sein Land der reformierten Lehre 
Calvins zu, wai nicht ohne Widerstand abging. 
Der spätere Anfall von kurmainzischen Gebiets 
teilen, ferner von Hersfelo und Fulda brachte dem 
Lande wiederum Territorien mtt rein oder doch vor 
wiegend katholischer Bevölkerung. So gewahren 
wir also auch in Kirchengeschichte und Kirchenrecht 
bei uns eine bunte Mannigfaltigkeit, um so mehr, 
als überdies die Geschichte und rechtliche Stel 
lung der Juden im Lande noch in die heimatkund 
lichen Forschungen einzubeziehen ist. 
Weiterhin aber hat ssch der Heimatforscher auch 
um die Bildungsgeschichte, um die Geschichte von 
Wissenschaft und Kunst seines Landes zu küm 
mern. Sie umfaßt einmal die Geschichte wissen 
schaftlicher und Kunst-Institute, wie Universitäten, 
Archive und Bibliotheken, Museen, Kunstakade 
mien, Theater usw. Dazu kommt dann aber noch 
zweitens die Frage nach den Persönlichkeiten, die 
an solchen Instituten oder auch als Privatleute ge 
wirkt haben. Und hier zieht die Heimatforschung 
sogar wissenschaftliche Disziplinen in ihren Bereich, 
die rein sachlich nicht in ihre Kreise gehören. Es 
gibt z. B. nicht eine spezifisch hessische Mathematik 
oder Astronomie, aber es gibt doch Männer, die ssch 
als gebürtige Hessen oder als Rtichthessen in unserem 
Lande in diesen Wissenszweigen betätigt haben; 
teilweise übrigens unter lebhafter Anteilnahme der 
Landesfürsten. Ich brauche da nur an die Be 
ziehungen zu erinnern, die Landgraf Wilhelm IV. 
zu den Astronomen und Astrologen seiner Zeit un 
terhielt, oder an die tatkräftige Förderung der 
Mussk durch Landgraf Moritz, der medizinischen 
und naturwissenschaftlichen Forschungen durch 
Landgraf Karl. — Daß auch die Geschichte des 
hesssschen Schulwesens und der einzelnen Schulen, 
der höheren wie der niederen, der geistlichen wie der 
weltlichen, hier einzubeziehen ist, bedarf kaum noch 
besonderer Erwähnung. 
Wir kommen zur Sprach- und Literaturge 
schichte. Auch das wenig geübte Ohr vernimmt die 
dialektischen Verschiedenheiten in unserem Gebiete. 
Man spricht in Kassel anders als in Karlshafen, 
in Fulda anders als in Hanau, in Marburg an 
ders als in der Schwalm. Ist es vielleicht nicht 
Aufgabe des Heimatforschers, diesen Dingen nach 
zugehen, sse wissenschaftlich zu untersuchen und fest 
zulegen? Und lassen ssch nicht auf Grund solcher 
Studien wertvolle ethnographische Rückschlüsse ge 
winnen? Besonders ertragreich ist auch die metho 
dische Untersuchung der Orts- und Flurnamen, die 
wiederum, wenn sie mit der gebotenen Vorsicht durch 
geführt wird, die wichtigsten Beiträge zur Sied 
lungsgeschichte zu liefern vermag. Reicht minder 
bedeutsame Resultate zieht die Heimatforschung 
aus der philologischen Erklärung der Personen 
namen, die z. B. für die berufliche Schichtung des 
Volkes manchen Beitrag bringen. 
SQstif den philologischen Arbeiten ist aber die 
Sprachwissenschaft noch nicht ausgeschöpft. Es ge 
hört zu ihr noch das große Gebiet der Literaturge 
schichte. Wohl jeder deutsche Volksstamm hat eine 
oft sogar recht umfangreiche bodenständige Litera 
tur, zu der namentlich die Dialektschriftsteller zu 
zählen ssnd. Wir in Hessen sind nicht arm an 
ihnen, und gerade in unserer Gegenwart haben wir 
eine ganze Anzahl einheimischer Schriftsteller und 
Dichter aufzuweisen.
	        

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