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Seuchen. Darüber enthalten die Akten ein
erschütterndes Material. Weiteres findet sich in
verschiedenen Chroniken, z. 23 . der des Kaspar
Preis aus Stausebach (abgedruckt von Kürschner
im „Hessenland" 1910), dem Kirchenbuch von
Neichensachsen von Pfarrer Ludolph (abgedruckt
von Kürschner in den „ 23 eiträgen zur hessischen
Kirchengeschichte" 1912), der Chronik des CyriacuS
Kompenhaus aus Eschwege (abgedruckt von Joh.
Braun, Eschwege), den Konventsprotokollen der
Klasse Gudensberg und dem Kirchenbuch von
Besse (in Brunners Geschichte von Gudensberg).
Der Pfarrer von Reichensachsen
schildert z. B., wie er im Mai 3 Wochen fliehen
mußte, dann von Pfingsten bis Mitte August noch
mals io Wochen, wie viel Menschen und Vieh
bei dieser Flucht Hungers starben, wie sie, als sie
endlich heimkamen und sich am Brot von der neuen
Ernte satt essen konnten, alle krank wurden, so daß
fast kein gesunder Mensch im ganzen Dorf zu fin
den war. Dann kam eine böse Teuerung. Trotz
dem die feindlichen Heere weit ab lagen, hörte die
„Streiferei" doch nicht auf, so daß stch der „eine
hier, der andere da, Ln den Bergen, Hecken und
Wildnissen gegen den Winter ein Hüttlein
machte". Erst im Februar des nächsten Jahres
konnten die armen Menschen heimkehren, sie
mußten bis nach Allendorf laufen, um für teures
Geld von den Schiffern etwas Korn zu kaufen.
Wieder mußten sie von Pfingsten bis Weihnachten
fliehen, auch dann noch mehrfach verfolgt, weshalb
ein Teil der Einwohner auswanderte, so daß nur
16 Männer im Dorf blieben. Die Not war so
groß, daß mancher für 4 Metzen Korn einen gan
zen Acker verkaufte. Fast ein Jahr lang hat unser
Gewährsmann, als „Pfarrherr", kein Stück
Fleisch zu essen bekommen, Kindtaufen und Hoch
zeiten wurden abgehalten, wie Ludolph schreibt,
„ohne Fleischsuppen, ohne Gesottenes oder Gebra
tenes; da haben wir essen lernen müssen grüne
Köhle, Hotzeln, Erbsensuppen ohne Schmalz, ja
sogar ungeschmolzen". Im nächsten Jahr war gar
kein Stück Vieh mehr im Dorf, und man konnte
schon für 2 Brote einen Acker Land kaufen.
Und Kaspar P r e i ö meldet von unserm
Jahr 1637: Das Dorf, das mit Amöneburg zum
Kurfürstentum Mainz gehörte, wurde in diesem
einen Jahr 7 mal von niederhesfischen Truppen der
Besatzung von Ziegenhain geplündert. Die Bau
ern besaßen insgesamt noch fünf Kühe und drei
Schweine, die sie nach Kirchhain gerettet hatten,
sie mußten also täglich das Futter hinschleppen und
wurden dabei mehrfach bis aufs Hemd ausgeplün
dert. Auch hier große Teuerung. Bei einer Plün
derung von Rauschenberg, wohin er sein Vieh vor
den Schweden gerettet hatte, verlor er zwei Jahre
später drei Pferde. 1639 zur Kirmeszeit war er
ganz allein im Dorf, seine Frau schickte ihm —
von der Amoeneburg aus — einen Topf Gersten-
brei, den er aus Angst vor dem Feind nicht wär
men konnte. Während er ihn kalt vor seiner
HauStüre aß, hielt das Dienstmädchen auf dem
Kirchturm Wache. Mät einer Art von Galgen
humor bringt unser Chronist es fertig, Vergleiche
zwischen früheren und jetzigen Kirmessen zu ziehen.
Damals waren Spielleute da und spielten zum
Tanz, jetzt ließen die feindlichen Reiter die Leute
springen. In einem anderen Kriegsjahr lagen 16
Tage lang feindliche Truppen im Dorf und hieben
alle Obstbäume ab, um sie am Lagerfeuer zu ver
brennen. Auch das Stroh vom Dach wurde zu
Lagerstätten verbraucht, die Latten und Sparren
verbrannt, so daß er erst kurz vor Weihnachten
mit Frau, Knecht und Magd, in grimmiger Kälte,
mit Handschuhen an den Händen, sein Haus wie
der decken konnte. Von Häusern im Dorf blie
ben nur 27, da die andern zerfielen; bis Kriegsende
waren es bloß noch 14. Die Unsicherheit war so
groß, daß er zum Ackern kein Vieh ins Feld mit
nehmen durfte, er spannte sich selbst mit Knecht
und Jungen vor den Pflug, und zwar barfuß, denn
vorher zogen sie die Schuhe aus und versteckten fie
im Mist, damit fie ihnen nicht unterwegs von den
Soldaten abgenommen würden.
Andererseits zeigt die Stausebacher Chronik, wie
verhältnismäßig schnell sich damals das flache Land
wieder erholte. Oft hatte unser Gewährsmann,
wenn er in einem Jahr alles Vieh verloren hatte,
im nächsten wieder eine ganze Menge; von 1637
bis 1643 hatte er es von 2 Kühen wieder auf n
Stück Rindvieh, 17 Schweine und 4 Ziegen ge
bracht. Ja, fünf Jahre nach dem Krieg fand eine
Hochzeit in Stausebach statt, bei der 4 Tage lang
13 Tische voll Gäste mit 22 Ohm Bier, 12)4
Maß Branntwein, einem ganzen Rinde, einem
Bullen, 2 Schweinen und 2 Schafen außer dem
Geflügel, mit 8 Mött Korn und 10 Metzen
Weizen bewirtet wurden.'
Endlich lesen wir in den KonventSproto-
kollen der Klasse Gudensberg aus
dem Jahre 1637: „Den 11. 2. ersäuft stch zu
Melsungen eine Mutter mit 2 Kindern, zweifels
ohne von Hunger dazu getrieben." (Dazu ist zu
bemerken, daß der Selbstmord, obgleich in manchen
Beschwerdeschriften öfters damit gedroht wurde,
trotz der furchtbaren Not überaus selten war, weit
seltener als in Deutschland nach dem Weltkrieg.
1926 z. B. 14 000! Außer dem eben erwähnten
Fall wurde nur noch ein einziger entdeckt, wo in der
Hungersnot 1646 ein getaufter Jude, der evan-