Full text: Hessenland (42.1931)

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in der Höhe musizieren Engelchen den Choral 
„O Haupt voll Blut und Wunden", während aus 
der Mitte des Butzenscheibenfensters Joh. Seb. 
Bachs Bildnis leuchtet. 
Auf dem Marburger Fest war auch Thielmann 
mit drei Kasseler musikbegeisterten Herren an 
wesend, woselbst er durch seine lustigen Vorträge 
die zu einem Festessen in größerer Zahl versammel 
ten Kunstfreunde und besonders Max Reger so zu 
fesseln wußte, daß erst in frühester Morgenstunde 
das Lager aufgesucht werden konnte. Reger erhob 
sich gegen 7 Uhr voller Kraft und Klarheit vom 
Tische, dem Weisen Sokrates im „Gastmahl" ver 
gleichbar, und sprach: „Nun will noch den „Sim 
pel" („Simplizissimus") lesen, um io tthr ist 
Die hessischen „Freiheiten". I. 
Nicht von der persönlichen Freiheit des Einzel- 
menschen, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der 
sittlichen, rechtlichen, der wissenschaftlichen, künst 
lerischen oder politischen Freiheit soll in diesem Auf 
satz die Rede sein, sondern von den lokal begrenzten 
Bezirken in Städten und andern Ortschaften, die 
in Hessen den Namen „Freiheit" führen oder ge 
führt haben, denn in den meisten dieser Orte ist 
selbst der Name im Verschwinden oder hat doch 
keine rechtliche Bedeutung mehr, sondern besteht 
nur noch als topographische Bezeichnung einer 
Straße, einer Häusergruppe oder eines Stadt 
bezirks. Der Name kommt auch in andern deut 
schen Ländern und Landesteilen als Bezeichnung 
eines örtlichen Bezirks vor, namentlich in den nord 
westlichen Gebieten (Hannover, Hamburg, West 
falen, Rheinland bis nach Belgien hinein 1: ), aber 
auch im ehemaligen Königreich Sachsen. Aber in 
der Geschichte der hessischen Städte und Ortschaf 
ten begegnet er uns öfter als anderswo. Es dürfte 
der Muhe wert sein, dem Sinne dieser Bezeich 
nung nachzugehen. 
Brunner 1 2 ) erklärt den Namen der Kasteler 
„Freiheit" (Martinsfreiheit) aus dem Umstand, 
daß den Neuansiedlern vor den Toren Kastelö eine 
gewisse Abgabenentlastung gegenüber den Bürgern 
der Altstadt, wenigstens für einige Jahre vom 
Landesherrn verliehen war. Daß sie diese Ver 
günstigung tatsächlich genosten haben, ja daß sie 
später noch einmal für einige weitere Jahre er 
neuert ist, steht fest, wenngleich das alte Stadt- 
privilegium von 1247 nicht mehr im Original vor- 
1) Beispiele dafür und nähere Auskünfte dar 
über bietet in großer Menge das Deutsche Rechts 
wörterbuch in Heidelberg, ein Institut zur Erfor 
schung der älteren deutschen Rechtssprache. 
2) Geschichte der Residenzstadt Kassel. 1913. 
Probe." Wie mir Thielmann sagte, hatte Reger 
immer eine Anzahl Anekdoten auf Lager, die er 
prächtig zu erzählen verstand. Eine lautete: Es 
waren mal zwei Schwestern, die waren arm und 
nannten nur ein einziges falsches Gebiß ihr eigen. 
Eines Tages war die ältere Schwester zu einem 
Kaffeekränzchen eingeladen, die andere aber wartete 
voller Schmerzen auf deren Rückkehr, um eine ge 
schenkte Theaterkarte zu benutzen. Als endlich die 
Altere erschien, sprang die Jüngere auf diese zu, 
entriß ihr das Gebiß, schob es schnell in ihren 
eigenen Mund und sagte schnalzend: „Ah, Schlag 
sahne hat's gegeben!" Wurde eine Postkarte ge 
schrieben, unterzeichnete der Meister stets mit 
„M ax Reger, Akkordarbeiter." 
Von Dr. jur. et phil. A p e l, Marburg. 
Handen ist. Ja, es muß sogar zugegeben werden, 
daß es noch andre städtische Neuansiedlungen mit 
dem Namen „Freiheit" gibt, denen ähnliche, aber 
noch geringere Vergünstigungen zu Teil wurden. 
Aber daß diese Vergünstigungen den betr. An 
siedlungen zu dem Namen „Freiheit" verholfen 
haben sollten, ist höchst unwahrscheinlich, nicht nur 
wegen der Geringfügigkeit und nur zeitweiligen 
Dauer dieser Vorzüge, sondern weil auch bei einer 
ganzen Anzahl dieser „Freiheiten" (z. B. Gudenö- 
berg, Fritzlar) diese Abgabenermäßigung nicht 
nachzuweisen ist und tatsächlich gefehlt hat, also 
nicht die Ursache dieses Namens sein kann. Auch 
war ihr eigentlicher Zweck nicht eine tatsächliche 
Freiheit, eine Existenzerleichterung für die Nen- 
bürger, sondern einerseits die Heranziehung neuer 
Ansiedler und andrerseits der raschere Ausbau des 
neuen Stadtwefens, der durch die Neuvergünsti- 
gnngen erleichtert und beschleunigt ward. Es ist zu 
vermuten, daß erst spätere Generationen, die den 
eigentlichen Sinn des Namens „Freiheit" nicht 
mehr verstanden, ihn von einer teilweisen und zeit- 
weisen Abgabenfreiheit hergeleitet haben. 
Eine andre Erklärung dürfte der Sache näher 
kommen. In manchen Gebieten, z. B. in West 
falen, ist der Name „Freiheit" eine Bezeichnung 
für offne Märkte, Marktfleckens). Marktflecken 
sind Ortschaften, denen die Marktfreiheit und der 
Marktfrieden, die Grundlage städtischer Anwesen, 
vom König (später auch vom Landesherrn) ver 
liehen war, die dann aber in der Entwicklung zur 
Stadt stocken und stehen geblieben find und das Ziel 
nicht erreicht haben. Es gibt deren eine ganze An- 
3) bürgermeister, raif und gantze Gemeynheit 
unser leven vryheit Plettenberg. Urk. d. Herzogs 
v. Cleve für Plettenberg im I. D. v. Steinen, 
Wests. Gesch. 2, 60.
	        

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