Full text: Hessenland (42.1931)

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gab es, seitdem der Kampf um Wagner ausgetobt 
war, längst keinen Gegensatz von Alt und Jung 
mehr, denn man liebte den Freischütz immer noch 
ebenso wie die Entführung aus dem Serail oder 
den Rosenkavalier, trotz der mancherlei Regie 
unterschiede in den Jahrzehnten vor und nach dem 
Kriege. Dazu war sie dank ihrer Popularität un 
erhört viel wirksamer als das Schauspiel. ^Wollte 
man also das Theater modernisieren und zeitge 
mäß aktualisieren, so war es mit dem Hamlet im 
Frack, der Proletarisierung der Räuber, mit Bau 
haus-Maschinerie und Filmprospekten allein nicht 
getan, solange die Oper diesem Ansturm trotzte. 
Hier schaffte es auch ein Lohengrin im Stahlhelm 
oder eine Carmen mit Bubikopf nicht. Die Oper 
radikal zu mechanisieren, stofflich zu entwerten, sti 
listisch zu vernichten, indem man sie zum Schauspiel 
mit Musik degradierte oder in Groteskverzcrrung 
ironisierte, ihre Jllusionistik durch abstrakte Raum 
experimente zu töten, hat man sich in den letzten 
Jahren redlich gemüht. Einige sensationelle Er 
folge haben das endgültige Fiasko dieser Bewe 
gung nicht aufhalten können. 
Das ist das Bild, wie eö sich auf jeder größeren 
deutschen Opernbühne und in entsprechender Ver 
einfachung auch in Kassel bietet. Wer spricht 
heute noch von dem jazzgeigenden Nigger „Jon- 
ny", der aller 2 Delt aufspielte und als Verkün 
der eines neuen Zeitgeistes sich blähte, oder von 
der zumeist mißverstandenen „Dreigroschenoper", 
deren bessere englische Vergangenheit die wenigsten 
ahnten. Ganz zu schweigen von der „Mahagonny"- 
Farce, die der Intendant Berg-Ehlert wohl noch 
aus dem Nachlaß seines Vorgängers übernehmen 
mußte. Er hat nun mit dieser bolschewistischen 
Art von Versachlichung der Oper gebrochen. Als 
erste Uraufführung seit langer Zeit hat er sich von 
Eduard Künneke, der ehemals mit ernsthaften 
musikdramatischen Werken in der Berliner Ko 
mischen Oper vielversprechend anfing, dann aber 
mit Operetten (Vetter aus Dingsda!) ein be 
rühmter Mann wurde, dessen „Nadja" gesichert 
und damit einen bedeutenden Publikumserfolg er 
rungen. Die Geschichte ist aktuell und romantisch 
zugleich, ihre Partitur hübsch klingend, schwelge 
risch-pathetisch und echt musikantisch. Es handelt 
sich um eine demimondäne Liebestragödie ä la Puc- 
cini (von Rolf Lauckner) aus dem kommunistisch 
bolschewistischen Leningrad, in der sich die Geliebte 
eines roten Generals für einen Pseudo-Chauffeur 
und Fürsten Troubetzkoi opfert, um ihn den 
Klauen der Tscheka zu entreißen. — Ein altes 
Marchenmotiv, das vom Ritter Blaubart mit 
dem Schauerkabinett seiner vielen ermordeten 
Frauen, hat in E. N. von Rezniceks „Blaubart" 
seine packende operliche Auferstehung gefunden, eö 
interessierte vor allem musikalisch durch die erstaun 
liche Wandlungsfähigkeit des heute 70jährige» 
österreichischen Komponisten. Von Offenbach 
hatte man eine harmlose „Robinsonade" eines 
abenteuernden Liebespaares, das auf einer Süd 
seeinsel unter die Wilden gerät, auögegraben. Die 
Partitur fand man in einem Pariser Antiquariat. 
Von Bizet versuchte man das schwermütige ly 
rische Theater seiner „Perlenfischer" (in der Neu 
einrichtung von Curt Perauer) wieder zu beleben. 
Köstlich amüsierte Wolf-Ferraris launiges Com 
media dell' arte-Spiel der Goldonischen „Vier 
Grobiane", die von ihren geriebenen Frauenzim 
mern am Ende doch überlistet werden, in seiner 
kecken spritzigen Harlekinadenmanier. Ein hoffent 
lich dauernder Gewinn wird die lang versprochene, 
sehr spät verwirklichte böhmische Volksoper „Je 
nufa" von Leo Janacek werden, die der tschechische 
Meister bereits vor 25 Jahren schrieb und die 
ihm schließlich den Weltruhm eintrug. Ein har 
tes, grausames, erschütterndes Schicksal der kleinen 
Leute im böhmischen Dorfe wühlt uns auf, wo 
die Mutter aus Liebe zur verführten Tochter zur 
Kindesmörderin wird. Jenufa die Betrogene steht 
zwischen zwei feindlichen Brüdern, dem treulosen 
Geliebten und dem Andern, der sie wieder ehrlich 
machen will. An ihrem Hochzeitstage bricht das 
Unheil über sie herein. Eine nationale Vollblut- 
musik von stärkster Intensität innerer Erregung 
schafft den ergreifenden Widerklang von Leiden 
schaft und Volksseele. Daß man sich auch eine 
Reihe Operetten-Neuheiten (acht, also eigentlich 
mehr als wünschenswert) gefallen lasten mußte, 
muß man der entarteten Zeit und der bedürftigen 
Theaterkaste zugute halten. 
Wichtiger als die Neuheiten, die meist nur ein 
kurzes Dasein haben und von denen sich hier wohl 
nur Nadja und Jenufa in die kommende Spiel 
zeit hinüberretten werden, sind die Neueinstudie 
rungen, die technischen und musikalisch-künstleri 
schen Erneuerungen der alten bewährten Opern, 
die das Rückgrat des Spielplans bilden. Saint- 
Saens „Samson und Dalila" festelte durch den 
Reiz seiner berauschenden MAodik und eine im 
ponierende Darstellungskunst. Straußenö „Sa 
lome" behauptete als psychologisches Stimmungs 
gemälde von faszinierender Farbigkeit ihren Platz. 
Smetanaö „verkaufte Braut" schmeichelte sich mit 
ihrer heiteren tänzerischen Liebenswürdigkeit leicht 
wieder ein. Im Mozart-Jahr hat man auch dem 
„Don Juan" und „Cofi fan tutte" gewichtige 
Jubiläumö-Ehre erwiesen und hat dazu den Rossi- 
nischen AllerweltS-,,Barbier von Sevilla" a bistel 
effektvoll umkostümiert. Dabei wollte man dann
	        

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