243
gab es, seitdem der Kampf um Wagner ausgetobt
war, längst keinen Gegensatz von Alt und Jung
mehr, denn man liebte den Freischütz immer noch
ebenso wie die Entführung aus dem Serail oder
den Rosenkavalier, trotz der mancherlei Regie
unterschiede in den Jahrzehnten vor und nach dem
Kriege. Dazu war sie dank ihrer Popularität un
erhört viel wirksamer als das Schauspiel. ^Wollte
man also das Theater modernisieren und zeitge
mäß aktualisieren, so war es mit dem Hamlet im
Frack, der Proletarisierung der Räuber, mit Bau
haus-Maschinerie und Filmprospekten allein nicht
getan, solange die Oper diesem Ansturm trotzte.
Hier schaffte es auch ein Lohengrin im Stahlhelm
oder eine Carmen mit Bubikopf nicht. Die Oper
radikal zu mechanisieren, stofflich zu entwerten, sti
listisch zu vernichten, indem man sie zum Schauspiel
mit Musik degradierte oder in Groteskverzcrrung
ironisierte, ihre Jllusionistik durch abstrakte Raum
experimente zu töten, hat man sich in den letzten
Jahren redlich gemüht. Einige sensationelle Er
folge haben das endgültige Fiasko dieser Bewe
gung nicht aufhalten können.
Das ist das Bild, wie eö sich auf jeder größeren
deutschen Opernbühne und in entsprechender Ver
einfachung auch in Kassel bietet. Wer spricht
heute noch von dem jazzgeigenden Nigger „Jon-
ny", der aller 2 Delt aufspielte und als Verkün
der eines neuen Zeitgeistes sich blähte, oder von
der zumeist mißverstandenen „Dreigroschenoper",
deren bessere englische Vergangenheit die wenigsten
ahnten. Ganz zu schweigen von der „Mahagonny"-
Farce, die der Intendant Berg-Ehlert wohl noch
aus dem Nachlaß seines Vorgängers übernehmen
mußte. Er hat nun mit dieser bolschewistischen
Art von Versachlichung der Oper gebrochen. Als
erste Uraufführung seit langer Zeit hat er sich von
Eduard Künneke, der ehemals mit ernsthaften
musikdramatischen Werken in der Berliner Ko
mischen Oper vielversprechend anfing, dann aber
mit Operetten (Vetter aus Dingsda!) ein be
rühmter Mann wurde, dessen „Nadja" gesichert
und damit einen bedeutenden Publikumserfolg er
rungen. Die Geschichte ist aktuell und romantisch
zugleich, ihre Partitur hübsch klingend, schwelge
risch-pathetisch und echt musikantisch. Es handelt
sich um eine demimondäne Liebestragödie ä la Puc-
cini (von Rolf Lauckner) aus dem kommunistisch
bolschewistischen Leningrad, in der sich die Geliebte
eines roten Generals für einen Pseudo-Chauffeur
und Fürsten Troubetzkoi opfert, um ihn den
Klauen der Tscheka zu entreißen. — Ein altes
Marchenmotiv, das vom Ritter Blaubart mit
dem Schauerkabinett seiner vielen ermordeten
Frauen, hat in E. N. von Rezniceks „Blaubart"
seine packende operliche Auferstehung gefunden, eö
interessierte vor allem musikalisch durch die erstaun
liche Wandlungsfähigkeit des heute 70jährige»
österreichischen Komponisten. Von Offenbach
hatte man eine harmlose „Robinsonade" eines
abenteuernden Liebespaares, das auf einer Süd
seeinsel unter die Wilden gerät, auögegraben. Die
Partitur fand man in einem Pariser Antiquariat.
Von Bizet versuchte man das schwermütige ly
rische Theater seiner „Perlenfischer" (in der Neu
einrichtung von Curt Perauer) wieder zu beleben.
Köstlich amüsierte Wolf-Ferraris launiges Com
media dell' arte-Spiel der Goldonischen „Vier
Grobiane", die von ihren geriebenen Frauenzim
mern am Ende doch überlistet werden, in seiner
kecken spritzigen Harlekinadenmanier. Ein hoffent
lich dauernder Gewinn wird die lang versprochene,
sehr spät verwirklichte böhmische Volksoper „Je
nufa" von Leo Janacek werden, die der tschechische
Meister bereits vor 25 Jahren schrieb und die
ihm schließlich den Weltruhm eintrug. Ein har
tes, grausames, erschütterndes Schicksal der kleinen
Leute im böhmischen Dorfe wühlt uns auf, wo
die Mutter aus Liebe zur verführten Tochter zur
Kindesmörderin wird. Jenufa die Betrogene steht
zwischen zwei feindlichen Brüdern, dem treulosen
Geliebten und dem Andern, der sie wieder ehrlich
machen will. An ihrem Hochzeitstage bricht das
Unheil über sie herein. Eine nationale Vollblut-
musik von stärkster Intensität innerer Erregung
schafft den ergreifenden Widerklang von Leiden
schaft und Volksseele. Daß man sich auch eine
Reihe Operetten-Neuheiten (acht, also eigentlich
mehr als wünschenswert) gefallen lasten mußte,
muß man der entarteten Zeit und der bedürftigen
Theaterkaste zugute halten.
Wichtiger als die Neuheiten, die meist nur ein
kurzes Dasein haben und von denen sich hier wohl
nur Nadja und Jenufa in die kommende Spiel
zeit hinüberretten werden, sind die Neueinstudie
rungen, die technischen und musikalisch-künstleri
schen Erneuerungen der alten bewährten Opern,
die das Rückgrat des Spielplans bilden. Saint-
Saens „Samson und Dalila" festelte durch den
Reiz seiner berauschenden MAodik und eine im
ponierende Darstellungskunst. Straußenö „Sa
lome" behauptete als psychologisches Stimmungs
gemälde von faszinierender Farbigkeit ihren Platz.
Smetanaö „verkaufte Braut" schmeichelte sich mit
ihrer heiteren tänzerischen Liebenswürdigkeit leicht
wieder ein. Im Mozart-Jahr hat man auch dem
„Don Juan" und „Cofi fan tutte" gewichtige
Jubiläumö-Ehre erwiesen und hat dazu den Rossi-
nischen AllerweltS-,,Barbier von Sevilla" a bistel
effektvoll umkostümiert. Dabei wollte man dann