Full text: Hessenland (42.1931)

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verfaßt, mag zunächst verwunderlich erscheinen. 
Doch ist ja bekannt, daß gerade die großen Dialekt 
dichter meist nicht aus dem Lande stammen, besten 
Mundart sie berühmt gemacht haben. So waren 
erst die Eltern Friedrich Stolzes aus 
W aldeck in Frankfurt eingewandert. Und 
es ist ja auch wohl zu verstehen, daß ein Kind, das 
auf der Straße und in der Schule von seinen Ka 
meraden eine ganz andere Sprache hört, als es zu 
Hause von seinen Eltern gewöhnt ist, ein ganz be 
sonders feines Ohr für die Unterschiede zwischen 
beiden und für die Besonderheiten der ihm neuen 
Sprache oder Mundart bekommt. 
Schon Losch a. a. O. hat erkannt, daß in den 
Anfangsbuchstaben der Worte, mit denen die 
Überschrift des zweiten Gedichts schließt: „Ich Hoffö 
Ninnige" auch die Anfangsbuchstaben des Namens 
des Dichters zu erkennen find. Die Überschrift des 
ersten Gedichts schließt mit den Worten: „(Der su 
schwatzt,) Als ließ Ueint." Hier hat also der 
Dichter, der etwa Jean Henri Martin geheißen 
haben könnte, den ersten Vornamen weggelasten. 
Daß diese Buchstaben, im ersten Gedicht 8, M, 
im zweiten I, H, M, etwas Besonderes zu bedeuten 
haben, geht auch daraus hervor, daß nur ste in la 
teinischen Lettern wiedergegeben find. Im übrigen 
find die Gedichte ganz mit deutschen Buchstaben ge 
schrieben. 
Der W o h n o r t des Dichters dürfte kaum 
Kastei gewesen sein. Dagegen spricht einmal die 
Tatsache, daß das erste Gedicht in Eisenach 
gedruckt ist, und sodann der Inhalt, namentlich des 
zweiten Gedichts, der auf eine rein ländliche Um 
gebung des Verfassers schließen läßt. Der Druck 
ort Eisenach und die Erwähnung des M" e i ß - 
n e r s sprechen für den östlichen Teil des Landes, 
doch dürfte die Werragegend nicht in Betracht 
kommen, da ste sich mundartlich doch sehr von dem 
eigentlichen Niederhesten unterscheidet. Eher könnte 
man an die Gegend von Lichtenau, Großalmerode, 
Waldkappel denken. 
Die Sprache ist im wesentlichen die in Nie- 
derhesten auf dem Lande noch heute gesprochene. 
Ob es eine genaue Untersuchung der sprachlichen 
und lautlichen Eigentümlichkeiten ermöglichen 
würde, ein bestimmtes Gebiet Niederhestens als 
Heimat des Dichters festzustellen, wage ich nicht zu 
entscheiden. Sehr merkwürdig ist der häufige Ge 
brauch der harten Konsonanten p, t, k statt der 
weichen b, d, g, so in Tä statt Dä (Ihr); tecke 
statt decke oder dicke, Kenick statt König. Aus der 
hessischen Mundart läßt sich diese Eigentümlichkeit 
kaum erklären. Sollte sie vielleicht daher kommen, 
daß der Dichter von Hause aus Franzose ist? 
In französischen Worten erscheinen uns die p, t, 
k (c) leicht als b, d, g, weil ste nicht wie bei uns 
mit einem Hauchlaut gesprochen werden, so z. B. 
das P in dem Worte Paris. Umgekehrt erscheinen 
den Franzosen unsere b, d, g oft als p, t, k, weil 
sie nicht wie im Französischen stimmhaft gesprochen 
werden. In französischen Witzblättern pflegt ja 
der Deutsche dadurch gekennzeichnet zu werden, daß 
er die harten und weichen, richtiger gesagt, oie 
stimmlosen und stimmhaften Konsonanten ständig 
durcheinander wirft. 
Gewiß ist der Dichter bei der Wiedergabe des 
Dialekts nicht immer konsequent verfahren. War 
es doch wohl überhaupt der erste Versuch, die dörf 
liche Mundart schriftlich festzulegen. Gewiste Un 
terschiede zwischen dem ersten und zweiten Gedicht 
lassen sich wohl daraus erklären, daß der Dichter 
in der Zwischenzeit besonders eifrig „dem Volke 
aufs Maul gesehen" hat, um mit Luther zu reden, 
und sich dadurch in der Wiedergabe der Mundart 
vervollkommnet hat. So ist z. B. das sogenannte 
S ch n e r ch e l - i (s. darüber v. Pfister a. a. O. 
unter „schnercheln"), das im ersten Gedicht nur ge 
legentlich vorkommt, im zweiten ganz folgerichtig 
durchgeführt. 
Die Form des ersten Gedichts ist eine durchaus 
volkstümliche. Es find kurze, kreuzweise gereimte 
Verse, 64 an der Zahl, die man ebensogut in 8 
achtzeilige wie in i6 vierzeilige Strofen einteilen 
kann. Ich habe das Letztere vorgezogen, weil es 
mir dem volkstümlichen Ton am besten zu ent 
sprechen scheint. Anders das zweite Gedicht. 
Der Dichter, der inzwischen im Hessenländchen eine 
Art Berühmtheit geworden ist, so daß er sich stolz 
den „nagelnuggen Hestenpoeten" nennen kann, hat 
hier den höfischen Alexandriner gewählt. 
Und wenn er diesen auch mit vollkommener Sicher 
heit handhabt, so scheint mir dieses zweite Gedicht 
doch an Form und Inhalt hinter dem ersten etwas 
zurückzustehen. Eine gewiste Weitschweifigkeit 
macht stch geltend, auch sind dem Dichter nicht viel 
neue Gedanken eingefallen, so daß er mehrfach die 
des ersten Gedichts in breiterer Form wiederholt. 
Sehr naiv find die beiden letzten Verse mit der 
Huldigung für den Prinzen Wilhelm, den Bruder 
und Statthalter des Königs. Es steht beinahe so 
aus, als ob es der Dichter mit diesem, dem tatsäch 
lichen Landesherrn, nicht ganz verderben möchte. 
Am wenigsten gelungen ist die dem zweiten Ge 
dichte angehängte „Hessische Arie uf der 
Zetter", der wohl eine bekannte und damals 
gangbare Melodie zu Grunde liegt. 
Ich laste nun die Gedichte folgen, und zwar das 
erste nach meiner Abschrift, das zweite nach dem
	        

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