Full text: Hessenland (41.1930)

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Das Ende einer Dynastie. 
Die regierenden Dynastien sind verschwunden, 
nicht aber das Interesse des Publikums für ihre 
Geschichte; im Gegenteil, man kann den schlechten 
Witz machen, daß Hofgeschichten bei uns „im 
Westen nichts Neues" seien. Deshalb wird ein vor 
trefflich ausgestattetes Buch „DaS Ende einer Dy- 
nastieJ. Kurhessische Hofgeschichten 1621—1866 . . 
von Joachim Kühn. Berlin, Brückenverlag 1929. X, 
927 S." gewiß Beachtung und manchen Leser finden. 
Der Verfasser dieses Buches ist den Lesern des 
Hessenlandes nicht unbekannt, hat er doch in seinen 
Blättern manchen wertvollen Beitrag veröffentlicht. 
Als Landfremder (Sohn eines preußischen Offiziers 
aus Posen) hat er von jeher ein, ich möchte sagen, 
verwunderliches Interesse für die neuere kurhessische 
Geschichte bekundet, das wohl durch sein fleißiges 
Studium französischer Gesandtschaftsakten in Paris 
zuerst erregt wurde zu einer Zeit, als er noch nicht 
Botschaftsrat an der Seine war. Seine letzte Ar 
beit auf diesem Gebiet in Buchform waren die „Kur 
hessischen Bilderbogen" (192/j), in denen bereits das 
vorliegende Buch „nach ungedruckten Dokumenten 
aus den Archiven des Ouay d'Orsay" angekündigt 
wurde. Nun ist es nach fünf Jahren erschienen, 
während deren auch noch „die Archive von Wien, 
Berlin und Kassel" 1 2 3 ) ausgeschöpft wurden. Dem 
Berliner Archiv sind allerdings nur wenige Infor 
mationen entnommen, teils, weil die preußischen Ge 
sandtschaftsberichte „von der kurhessischen Ge 
schichtsschreibung in Verruf erklärt worden sind". 
Das ist eigentlich schade. Obwohl ihr Material, 
wie Kühn sagt „— vielleicht mit Recht — für par 
teiisch gilt" (er zitiert ja auch das Wort Bernstorffs, 
daß der preußische Gesandte in Kassel „der dümmste 
Mensch unter der Sonne" sei), so ist eö doch gewiß 
nicht unwichtig. Vielleicht hätte mit ihrer Benutzung 
K. nicht so sicher die zweimalige „Mobilmachung 
KurhessenS gegen Preußen" in den 20er Jahren 
erwähnt (S. 99 u. 69). 
Von allen fremden Gesandten war der Chevalier 
de Cab re 2 ) am längsten in Kassel (1822— 4 °)/ 
und demgemäß bilden seine Berichte auch so etwas 
wie das Fundament wenigstens des ersten Teiles 
des K.scheu Buches. Der Chevalier war ein geist 
voller und kluger Mann, wohl der Klügste unter 
den Kasseler Diplomaten, aber er war auch zugleich 
ein boshafter Spötter, den körperliches Leiden 
immer ungerechter in seinem Urteil machte. „Es ist 
1) Dom Ende einer Dynastie kann man eigentlich nicht 
gut reden, wenn diese Dynastie wie die kurhessische zur Zeit 
noch dreizehn männliche Mitglieder zählt. 
2) Gemeint ist wohl daö Stadtarchiv; denn ein anderes 
nanihaftes Archiv gibt es meines Wissens in Kastei nicht 
mehr. 
3) Sein Neffe und Sekretär war der Graf Laborde, ehem. 
Kafleler Gymnasiast, später vorzüglicher Archäologe und 
Kunsthistoriker, der unter Napoleon III. an die Spitze der 
französischen Archive berufen wurde. 
Don Dr. Philipp Losch. 
mir oft recht peinlich gewesen, den französischen Ge 
sandten reden zu hören" berichtet der Maler Louis 
S i g. Ruhl, wahrlich kein Verehrer Kurfürst 
Wilhelms II., in seinen Aufzeichnungen über das 
damalige Kassel, die längst einen Neudruck verdient 
hätten. Er erwähnt darin auch eine Äußerung des 
Grafen Gozze an de Cabre: „Warum haben diese 
Personen Ihre Schmähungen verdient? Sie ge 
fallen Ihnen nur nicht, weiter trifft sie kein Vor 
wurf", die de Cabres Wesen bezeichnet, wie es 
Nuhl ausfaßte, der übrigens in engem Verkehr mit 
dem französischen Gesandten stand. 
Man darf m. E. überhaupt den Wert von Ge- 
sandtschastsberichten nicht überschätzen, namentlich 
nicht die aus kleinen Höfen, wo sich die Gesandten 
langweilten und notgedrungen zum Hosklatsch grei 
fen mußten, um ihre fälligen Berichte zu füllen. In 
erhöhtem Maße gilt das von Berichten entlassener 
Erzieherinnen und Hofdamen I. 
Das ändert nichts an der Tatsache, daß Schilde 
rungen, die aus solchen Ouellen beruhn, meist unter 
haltsam zu lesen sind. Und das gilt auch von dem 
Kühn'schen Buche. Es enthält interessante Bei 
träge zur Hofgeschichte der beiden letzten Kasseler 
Regenten, namentlich Wilhelms II., dem fast zwei 
Drittel des Buches gewidmet sind, wobei der Ver 
fasser sich hauptsächlich auf die Beziehungen der 
beiden letzten Kurfürsten zu den Frauen beschränkt, 
an die ihr Herz gefesselt war, also der Gräfin 
Reichenbach und der Fürstin von Hanau. 
Der erste Teil bringt wertvolle Ergänzungen über 
die Ansänge der Reichenbach, wozu ich weniger die 
legendäre (von Fr. v. Zobeltitz in der Voss. Ztg. 2 ) 
noch romanhaft aufgeputzte) Entstehungsgeschichte 
des Verhältnisses als den Briefwechsel der Ortlöpp 
mit dem damaligen Kurprinzen rechne, der hier zum 
ersten Male veröffentlicht wird. Der zweite Teil 
des Buches ist dem letzten Kurfürsten gewidmet und 
zeigt in der Auswahl der Belegstellen sehr deutlich, 
wie unsympathisch dem Verfasser die Gestalt Fried 
rich Wilhelms I. ist. Die unerfreulichen Eigen 
schaften dieses Fürsten und seine Fehler und Män 
gel als Regent nachweisen zu wollen, heißt offne 
Türen einrennen. An ihm aber auch gar kein 
gutes Haar zu lassen, geht doch wohl auch ein biß 
chen zu weit. Und wenn man in seinem Sünden 
register einen Satz liest, wie den: „Er bestimmte 
4) Warum ist die (übrigens S. 322 falsch zitierte) Hof 
dame nicht mit ihrem Namen genannt? Wußte K. ihn nicht, 
so wußte er doch gewiß den Namen des S. 269 zitierten Dip 
lomaten, dessen Nachkommen m. W. übrigens auch heute, 
55 Jahre nach dem Tode, 6ss Jahre nach der Absetzung Fried 
rich Wilhelms I., noch nicht im Besitze des väterlichen Gutes 
sind. 
3) Wenn dort Kurheljen „Kurkassel" genannt wird, so 
klingt das ebenso sonderbar, als wenn man für die Kurfürsten 
tümer Brandenburg und Bayern „Kurberlin" oder „Kur 
münchen" sagen würde.
	        

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