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ger Linie, die, durch den Landgrafen Ernst zum katho
lischen Bekenntnisse zurückgeführt, fast stets im Kampfe
mit der Kasseler Hauptlinie lag und selbst nicht davor
zurückscheute,, die ihr zugefallene hessische Festung
Rheinfels, das Bollwerk des Mittelrheins, an die
Franzosen zu verraten. Dem erwähnten Landgrafen
Ernst wäre dieser, beim Gelingen für ganz Deutschland
verhängnisvolle Streich geglückt, wenn nicht im letzten
Augenblicke Landgraf Karl von liessen-Kassel die
Festung besetzt hätte. Eingehender verweilte der Red
ner dann noch bei der Lebensgeschichte des Landgrafen
Karl von Husten-Rotenburg, des „eito^en de Hesse“,
der den: hessischen Fürstenhause keine Ehre machte.
Der letzte Teil des Vortrags beschäftigte sich mit der
voin letzten Kurfürsten von Hessen angeordneten cura
ventris über die letzte rotenburger Landgräfin, Prin
zessin Eleonore von Salm-Reifferscheid-Krautheim. Da
der Vortragende den Inhalt seines Vortrages bereits
in ausführlicher Weise im Drucke veröffentlichte *),
dürfen wir hieraus verweisen. Über den oben er
wähnten Landgrafen Karl von Pessen-Rotenburg, hat
Arthur Kleinschmidt in Band 35 der Zeitschrift des
Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde ein
gehend berichtet.
Zu Beginn des zweiten Unterhaltungs
abends, am 2. Dezember j 9 2 9 , wies der
Schriftführer, Erster Bibliotheksrat Or. Israel, darauf
hin, daß der Leiter des Abends, Zolldirektor i. R.
Woringer, wenige Tage vorher, am 29. November,
die 25 jährige Zugehörigkeit zum Vorstände des
Hauptvereins feiern konnte, und widmete dem Ge
nannten warme Worte der Ehrung und des Dankes.
Zolldirektor Woringer dankte und berichtete in humor
voller Rede über seine erste Tätigkeit, damals als
Schriftführer des Lfauptvereins, in welcher die Erhal
tung des Schlosses Spangenberg, die Gründung des
Hessischen Landesmuseums und die Bickell'sche Erb
schaft sehr mühsame, aber auch sehr interessante und
lohnende Arbeit brachten. Lebhafter Beifall wurde den
Ausführungen des stellvertretenden Vorsitzenden zuteil.
Dieser erteilte sodann das Wort dem Volkswirt
Bruno Jacob zu seinem Vortrag über „die Geschichte
des Kasseler Patriziats".
Die Geschichte des Kasseler Patriziates, die mit der
scharfen Eäsur von ^ 39 ^ abbricht, fast ohne auch nur
die geringsten Spuren zu hinterlassen, ist noch so gut
wie völliges Neuland. Wenn Karl Lamprecht
in seiner „Deutschen^Geschichte" die Patriziatsgeschichte
auf durchschnittlich drei Generationen berechnet und
für das \ 2 . und 13 . Jahrhundert ansetzt, so trifft das
für die von ihm herangezogenen Beispiele aus dem
Rheingebiet, aus Flandern und Magdeburg zu, für
unser Hessenland dürfen wir aber etwa die Zeit von
1280 bis J 39 J als die Zeit der Patriziatsherrschaft
ansprechen. Die furchtbare Zerstörung des Akten
materials im Kasseler Stadtarchiv nötigt uns, auf das
vorhandene Aktenmaterial des Staatsarchivs und auch
besonders auf die Urkunden der Klösterarchive zurück
zugreifen. Das Bild wird immer lückenhaft bleiben,
und was hier geboten wird, soll mehr die Probleme
aufzeigen als eine abgeschlossene Geschichte des
Patriziates in Kassel bieten.
Zunächst ist es nötig, den Kreis der Familien zu be
stimmen, die dem Patriate zuzurechnen sind. Wir
können da drei Schichten unterscheiden: Die älteste der
patronymen Geschlechter, der Bernonis, Brunonis,
Gifelonis usw., vielleicht gehören hierher auch noch die
i) Neuhaus, Der Iakobinerprinz und andere Geschichten, tzerrfeld.
Hans Dtt Verlag.
Familien mit pausnamen, wie Am Markt oder Von
dem Tore. Die zweite Schicht sind wohl Freie, bie
aus dem umliegenden Dörfern in die junge Stadt zo
gen, sich dort nach ihrem Herkunftsorte, wo sie meist
noch begütert waren, nannten; später haben sie auch
noch Grunderwerb in anderen Dörfern getätigt, bezw.
wurden sie mit fortschreitender Entwickelung Renten
bezieher aus ihren Gütern. Die dritte Schicht ist die
der neuen Reichen, die aus dem Handwerk und der
Kaufmannschaft nur in geringem Maße in den Rat
der Altstadt eindrangen, dafür aber vornehmlich im
Rate der Freiheit auftreten. Es sind die Kellnir,
Färbir usw., die also ihren Berufsnamen zum Fa
miliennamen wandelten, wie das schon früher der
Münzer (Monetarius) tat, der wohl der General-
pächter der Kasseler Münze und der Bankhalter war,
so wie das Falkenheiner für Fritzlar schildert .und
Butte für ein Mitglied der Familie Friese in Hursfeld
nachweist. — Keine der drei Schichten darf als in sich
geschloffene Kaste betrachtet werden, gegen Ende des
s 3 . Jahrhunderts treten Mitglieder der ersten Schicht
neben Landadeligen als „Ritter und Bürger" gleich
zeitig auf, die Ritterfamilie Langschenkel in der Neu
stadt scheint verwandt und verschwägert mit anderen
Patriziatsfamilien und ist selbst doch niemals im Rate
zu finden. Wir finden auch andere Familien, wie die
Habemann, Ratmann, Balhorn u. a. mit Patriziats
geschlechtern verwandt, ohne daß sie selbst dem Rate
angehören. Wie wenig man scharfe Kastenscheidung
kannte, beweist uns das Beispiel getaufter Juden, wie
jener Schulteiß Dietrich Diktus Iudäus zu Kassel, der
dem Rate vorsteht, wie uns denn auch seine Ver
wandten im Dieniellande als Amtleute usw. begegnen.
Auch an der mittleren Werra begegnen wir einem
Rittergeschlecht, das den Namen „Der Iutemann"
trägt, auch hier war wohl ein getaufter Jude voni
Hörigen zum Ministerialen geworden und somit in den
Ritterstand, den Wehrstand des Lehnsstaates, auf
gestiegen.
Sehr weitschichtig sind die Probleme wirtschaftlicher
und sozialer Art, denen wir begegnen. Wir sehen, wie
die Patriziatsfamilien ihren Grundbesitz langsam
mobilisieren und m Geschäften anlegen, für die Syden-
fchwänze z. B. sind Fälle des Lombardskredites, den
sie Bauern gewähren, nachweisbar. Aber auch das
Ahnaberger Kloster und das zu Weißenstein erscheinen
als Punkte der Kapitalbildnng, die durch die Ge
währung von H?pokhekarkrediten den Übergang der
Geschlechter zur mobilen Kapitalswirtschaft beschleu
nigen helfen. Ausfallend ist das häufige Vorkommen
von patrizifchem Grundbesitz im Dorfe Wolfsanger,
wo unter anderem die Familie Geismar und die ihr
verschwägerte der Steinbul große Liegenschaften hat
ten, deren teilweise Mobilisierung wir beobachten.
Aber es bleibt noch genug, um den später in Wolfs-
anger befindlichen adeligen Grundbesitz aus der
Lehensverteilung nach dem Sturze des Patriziats zu
erklären. — Bemerkenswert ist auch das vordringen
des römischen Rechtes in Hessen, das sich feit etwa
J 370 aus dem Umstande ablesen läßt, daß nicht mehr
der Rat in dem alten Umfange Beurkundungen vor
nimmt, sondern daß viele Verträge vor dem Notar
abgeschlossen werden.
Wenn die erstgeborenen Söhne der Geschlechter in
den Besitz des Vaters und in dessen öffentliche Ämter,
vornehmlich den Rat, hineinwuchsen, dann sehen wir
die jüngeren Söhne in geistlichen Stellungen, wobei ein
mal Stiftungen der Familie vielfach eine Pfründe
schufen, andererseits aber auch der Gheim den Neffen