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Ein Kasseler Adreßbuch und Fremdenführer vor 100 fahren.
Von Dr. Georg Wenderot h.
Alte Fremdenführer sind Kulturdokumente, zu
mal wenn ihnen, wie in dem vorliegenden Kasseler
Führer aus dem Jahre 1628, ein vollständiges
Adreßbuch mit Berufsbezeichmmgen angehängt ist.
Es lohnt sich, dieses 216 Seiten starke Buch, das
erste seiner Art („Cassel und Wilhelmshöhe, ent
haltend nützliche Nachweifungen für Einwohner
und Fremde; mit einer geschichtlichen Einleitung
und angehängtem Adreßbuch. Erster Jahrgang,
1828, Verlag von Geeh & Rausch"), durchzu
blättern, denn es war das Kastei, in dem die Brü
der Grimm wohnten und in dem noch Baumeister
wie Bromeis die Schlußsteine an die kurfürstlichen
Prachtbauten setzten. Ein Kastei, in dem noch, wie
es dort heißt, „die Eilwagen, Diligencen und Staf
felten" auf dem Königsplatze vor dem Posthause
neben dem „Gasthause zum König von Preußen"
aus- und einliefen, in dem die Vornehmen sich noch
in Sänften von Leuten tragen ließen, die das
Adreßbuch „Portechaisenträger" nennt; in dem der
Hofstaat vom kurfürstlichen Kammerherrn bis
herab zum „kurfürstlichen Stubenmädchen" einen
breiten Raum einnimmt; das mit seinen 25 000
Einwohnern nach Ausweis dieses Buches noch
wenig Jndustriebevölkerung in unserem Sinne
kannte, in dem aber sehr zahlreiche Handwerks
meister, darunter solche halbvergessener Gewerbe
wie Seifensieder, Schwertfeger, Riemer, Weiß
gerber, Gelbgießer, Kammacher, Strumpfwirker
usw. dicht zusammensaßen. Das Adreßbuch zählt
ste sorgfältig auf und nennt die Namen der Zunft
meister. Einer lenkt da unsere Aufmerksamkeit
auf sich: Meister Georg Carl Henschel, der Glocken
gießer, besten io Jahre vorher gegostene große
Glocke im Dom gerühmt wird und von dem es
unter den Sehenswürdigkeiten heißt: „Das Gieß-
hans wird Herr Stückgießer Henschel so bereit
willig als seine großen Maschinenfabrik-Anstalten
an Fremde auf Verlangen zeigen und beschreiben."
Auch die Brüder Grimm haben die Ehre, be
sonders genannt zu werden, aber nicht als Mär
chenerzähler oder Entdecker des Hildebrandsliedes,
sondern als Führer durch die Kurfürstliche Biblio
thek: „. . . . die bei der Bibliothek angestellten
Herren Gebrüder Grimm, Männer, denen die
Literatur von Amts wegen obliegt und die darin
ausgezeichnete Kenntnisse besitzen, sind jedem Frem
den zuvorkommend höflich und zeigen die Natur-,
Kunst- und wistenschaftlichen Schätze im Museum
und in der Bibliothek in lobenswerter Bereit
willigkeit. "
Die Wohnung der Grimms finden wir im
Adreßbuch auf der Schönen Aussicht, damals noch
genannt „Bellevuestraße", Nr. 6. Diese Straße
wird natürlich im beschreibenden Teil als eine der
schönsten gerühmt, und es wird verständlich, warum
Grimms gerade sie zum Wohnen (seit 1815)
wählten: „Sie ist sehr stille, daher sie dem, der
gern in Ruhe lebt und dem Freunde der Mausen,
dessen Geist in Betrachtung der schönen Natur
zum Liefen Nachdenken geweckt wird, am ange
nehmsten ist." Der Ausblick ins Tal zeigte eine
noch rein ländliche Gegend: „rechts und links ein
das Auge erquickendes weites grünes Tal, von dem
glänzenden Spiegel der Fulda geziert und durch
mehrere Herden von Rindern und Schafen belebt;
dies alles umgeben mit zerstreut liegenden lieblichen
Dörfern und fruchtbaren Feldern und Wiesen und
endlich begrenzt durch allmählich sich erhebende
Wälder also es war noch ganz das Mär
chenland unserer Märchendichter.
Wir finden noch einige andere vertraute Namen
in diesem Buche. Wilhelm Grimms Schwieger
vater, den Apotheker Wild, kennt das Buch sogar
als Besitzer einer Sehenswürdigkeit: „Herr Hof
apotheker und Ober-Medizinal-Assefsor Dr. Wild
pflegt in feinem botanischen Garten eine Menge
der seltensten Alpen- und Moorgewächse mit be
sonderer Sorgfalt; so daß solche in dem gedeih
lichsten Zustande sind." Das im Adreßbuch ver
zeichnete „Fräulein D. v. Schwerzell, Friedrichs-
platz 55", war Mitarbeiterin von Grimms Mär
chen. Ebenso die Hassenpflugs, deren Wohnung
wir in der Königstraße finden. Dort wohnte ja
der mit Hof, Regierung und Garnison verbundene
Adel und Beamtenstaat, die von Baumbachs,