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schält, das von Dialektgrenzen fast frei ist, das also
einen Dialekt von „hochgradiger" Einheitlichkeit
darbietet.
Wie wenig fich dieses Gesamtbild vor den Tat
sachen halten laßt, soll unsere Karte 2 darlegen,
die zu der Maullschen eine aus einer Durchsicht des
gesamten Sprachatlas gewonnene typische Auswahl
hinzunimmt. Der Übersichtlichkeit halber ist daher
darauf verzichtet worden, noch mehr Linien, die Frank
furt vom Süden oder Norden abtrennen, einzutra
gen. (Nördlich der Linie, an der Perfekt steht, gilt
das Imperfekt, etwa in ,er kam: er ist gekommen'.)
Sie zeigt auch dem blödesten Auge, daß Frankfurt
keineswegs der Mittelpunkt eines einheitlichen Dia
lektgebietes ist, daß vielmehr um Frankfurt herum
die Mundarten in einer Zersetzung begriffen find,
die sich in dem Gewirr der Sprachlinien deutlich
abzeichnet. Man erkennt viel eher etwa um Kaisers
lautern und um Marburg, Gießen einheitliche Ge
biete als eine hochgradige Einheit um Frankfurt.
Dieser Zersetzungsprozeß läßt fich noch heute in der
unmittelbarsten Umgebung von Frankfurt klar beob
achten. Wenn man, um nur e i n Beispiel anzu
führen, die Sprachatlaskarten Brot und Ohren,
die beide in der Stammsilbe altes langes o haben,
auf einem Pausblatt vereinigt, so steht man, daß
die Verteilung der hessischen Brut und Uhren-
formen gegenüber den südlichen (binnenfränkischen)
Brot-, Ohren - formen bei beiden Beispielen ganz
verschieden ist. Bei Brot haben Frankfurt, Bocken-
heim, Hausen, Rödelheim, Griesheim, Heddern
heim, Eschersheim, Bonames und Vilbel die Form
mit o, alle anderen Orte nördlich des Main da
gegen Brut. Bei Ohren haben aber Schwan
heim, Nd. Ursel, Ginnheim, Preungesheim, Ber
kersheim, Seckbach, Enkheim, Fechenheim auch
Ohren, während umgekehrt Bockenheim und
Eschersheim Uhren sagen, aber Brot. Die urkund
lichen Formen und die Beobachtung der älteren
Dialektschriftsteller (bis auf Stoltze) ergeben, daß
das gesamte Gebiet einmal Brut und Uhren ge
sprochen, somit die Formen des hessischen Nor»
den gehabt hat. Der sprachliche Kampf tobt also
heute noch in den Mauern von Groß-Frankfurt.
Wie die Arbeit von Paul Freiling in dem Buche
„Rund um Frankfurt" (Frankfurt 1924) immer
wieder laut- und wortgeographisch belegt, hat Frank
furt bis vor fünfzig, sechzig Jahren durchaus wetter-
auisch gesprochen. Die sprachliche Zugehörigkeit
Frankfurts zum hessischen Norden wird auch histo
risch verständlich, wenn man hört, daß der größte
Teil der Einwohner der Stadt im Mittelalter aus
vem Norden stammte, und daß die Hälfte der im
14. und 15. Jahrhundert Zugezogenen aus dem
Norden kam. Erst später vollzog sich die Entwick
lung zur „süddeutschen" Stadt (Freiling S. 208).
Sprachlich löst sich aber Frankfurt erst in jüngster
Zeit immer mehr aus diesem Zusammenhang und
setzt sich an die Spitze einer Kampfkolonne von süd
lichen oder der Schriftsprache nahestehenden For
men. Frankfurt sagt z. B. Bruder, während der
Hesse im Norden Brourer und der Süden Bru-
rer spricht. Es tritt also für das nördliche hessische
Gebiet durchaus zerstörend auf, nicht sammelnd.
Wenn wir nun noch einmal auf das Ge
samtbild sehen, so weiß jeder, der die Methoden
der modernen, am Sprachatlas erwachsenen Dia
lektforschung kennt, daß die heutigen Dialektgren
zen Niederschläge der territorialen Verhältnisse des
Mittelalters find, vie erst durch die jüngste Ent
wicklung von Wirtschaft und Verkehr verwirrt
und zerstört werden. Sie sind abhängig von histo
rischen Bindungen und Prozessen. Es ist also die
selbe Zersplitterung und Zerristenheit zu erwarten
wie bei den historischen Kartenbildern überhaupt.
Neben den Einwirkungen der Kleinbewegungen
innerhalb der Territorien hat die moderne Forschung
aber auch über die Länder hinausgreifende Groß
bewegungen sehen und erkennen gelernt. Was da
von schon zu beobachten ist, zeigt deutlich, daß
Frankfurt nie derTräger solcher
Großbewegungen gewesen ist, sondern
daß es jahrhundertelang inmitten der wetterauischen
Sprach- und Kulturlandschaft sein Genüge gefun
den hat.
So erweist fich die hochgradige Einheitlichkeit der
Mundarten im Rhein-Main-Raum als ein
Trugbild. Der auf ihr aufgebaute Beweis ruht
auf falschen Voraussetzungen, ist als unhaltbar und
verwirrend nachdrücklich abzulehnen.