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„Utilitätsrückfichten" damals noch mit bescheidensten
Ansprüchen auftraten; daß auch durch den Über
gang der Bibliothek an den Staat in dieser Be
ziehung keinerlei Änderung eingetreten sei, daß
im Gegenteil der alte Grundsatz eine neue Bestäti
gung gefunden habe. Die beiden Bibliothekare
waren als die verantwortlichen Beamten um so
weniger gegen die Einbeziehung der Naturwifsen-
schaften in den Anschaffungsplan der Bibliothek,
als dadurch eigentlich der alte Zustand wiederherge
stellt worden wäre. Die Bibliotheksordnung vom
Jahre 1875 führte denn auch die „Naturwisten-
schaft, und darunter vorzugsweise die die Land- und
Forstwirtschaft betreffende Literatur" als neues
Hauptfach an 3. Stelle nach Geschichte und Geo
graphie auf.
Diese Einreihung und starke Hervorhebung der
Naturwissenschaften war auf die Annahme ge
gründet, daß sie durch eine anderweitige Verteilung
der unverändert bleibenden Anschaffungsmittel ge
tragen werden könne; man hatte nicht genügend be
rücksichtigt, daß es sich hier um eine bedeutsame Er
weiterung des Arbeitsgebietes handelte, für die wohl
einige Grundlagen vorhanden waren, die aber nicht
ausreichten, befriedigende Ergebnisse zu ermöglichen.
Da an eine entsprechende Erhöhung der Mättel
nicht gedacht werden konnte, brachte die Neufassung
der Bibliotheksordnung vom Jahre 1883 den Rück
schlag: die Naturwissenschaften stehen nun an 6.
Stelle — ihnen folgen nur noch „Nationalöko
nomie und Statistik, landwirtschaftliche und forst
wirtschaftliche Literatur".
Damit haben diese Erweiterungsversuche ihr
Ende gefunden; die zur Verfügung stehenden Mät-
tel reichten und reichen auch heute nicht aus, um
auch auf diesen Gebieten einigermaßen befriedigende
Bestände zu beschaffen; das war und ist um so we
niger möglich, als die steigende Bedeutung der Na
turwissenschaften in allen ihren Einzelheiten eine
solche Vermehrung der hierher gehörenden Literatur
gebracht hat, daß jeder Versuch, hier auch nur
einigermaßen mitzukommen, von vornherein zum
Scheitern verurteilt ist, so lange nicht neue erheb
liche Mättel dafür flüssig gemacht werden können.
Unsere Zeit ist nichr dazu angetan, solche weitauö-
schauende Aufgabenerweiterung, bei der übrigens
nicht so sehr die praktischen Auswirkungen als das
rein Geistige der Naturwissenschaften selbst in
Betracht kommt, sofort und nachdrücklich in An
griff zu nehmen. Da aber schon seit Jahren
starke Nachfrage nach naturwissenschaftlicher Lite
ratur besteht, die im Lande — außer in der Univer
sitätsbibliothek Marburg, die aber durch ihre
eigentliche Aufgabe stark gebunden ist — nicht be
friedigt werden kann, so wird man nicht mehr lange
an dieser Aufgabe vorübergehen können und ihre
Lösung durch vorbereitende Arbeit wenigstens für
absehbare Zeit ins Auge fasten müssen. Auf
keinen Fall darf aber der Versuch wiederholt wer-
den, das durch Kürzung anderer Fächer zu erreichen,
in denen die Bibliothek z. T. ausgezeichnet und
nicht unerheblich über dem Durchschnitt anderer für
den Vergleich in Betracht kommender Bibliotheken
ausgestattet ist; die Folge könnte wie in dem Jahr
zehnt 1873—1683 rrur die fein, daß auf allen
Seiten Halbheiten erwüchsen, die bisherige Linie
verhängnisvoll gebrochen und auch auf der neuen
nur Stückwerk geschaffen würde. Die Landes-
bibliothek muß um der inneren Wahrheit willen
ihren historischen Charakter betonen und die Pflege
der Geschichtswissenschaft mit allen ihren Aus
strahlungen in die vorderste Linie stellen. Hierdurch
wird aber auch ihr Verhältnis zu den übrigen Wis
senschaften bestimmt: ebenso wie die Mnchardsche
Bibliothek der Stadt Kassel in Ansehung der
Staatswifsenschaften muß sie im Hinblick auf die
Geschichte auch andere Zweige der Wissenschaft so
weit heranziehen, als sie dem Studium der Ge
schichte förderlich find. Daraus ergibt sich z. B.
für die Philologie, daß rein grammatische und
linguistische Einzeluntersuchungen nicht in Betracht
kommen können, die Literaturgeschichte aber alö ein
Zweig der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der
Menschheit zu pflegen ist. Die Denkmäler der
Literatur, die Hauptwerke der Dichter und Schrift
steller stellen sich zur Literaturgeschichte wie die
Ouellenwerke der Geschichte zur Geschichtschrei
bung — sie müssen vorhanden sein. Aus diesem
Beispiel ergibt sich die Einstellung der Landeöbiblio-
thek zu den von ihr gepflegten Wissenschaften; der
sorgsamen Beachtung der hierin liegenden Grund
linien verdankt sie ihre steigende Leistungsfähigkeit
auf allen für ste in Betracht kommenden Gebieten.
Unter diesen nimmt die Rechtswissenschaft insofern
eine besondere Stellung ein, als zu berücksichtigen
ist, daß ein Teil der juristischen Literatur von den
Fachbibliotheken vor allem des Kasseler Ober
landesgerichts beschafft wird. Auf der anderen
Seite macht es die große Zahl der jüngeren Ju
risten notwendig, daß von der Landesbibliothek nicht
nur die wissenschaftlich wichtigsten Kommentare,
sondern auch die grundlegenden darstellenden Werke
beschafft werden, wobei freilich auch hier von der
Literatur über Einzelfragen abgesehen werden muß.
Die Landesbibliothek kann sich auf diesem Gebiet
auf die Pflege der Literatur des Zivil- und des
Strafrechts beschränken, nachdem die Murhardsche
Bibliothek die Beschaffung der Literatur ans dem