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ien, die dem Land schweren Schaden brachte und die
eingesessenen Beamten und sonstigen Bevölkerungs
kreise aufö tiefste verstimmte. Auch die Bibliothek
mußte es sich gefallen lassen, daß einer dieser frag
würdigen Gestalten im Jahre 1777 ihre Leitung
übertragen und deshalb der bisherige und in treuer
Arbeit bewährte i. Bibliothekar Friedrich Christoph
Schmincke auf die 2. Stelle zurückgesetzt wurde.
Konnte man es doch dem Marquis de Luchet, dem
schon wenige Neonate nach seinem Auftauchen in
Kassel eine ganze Reihe von z. T. nicht unwichtigen
Ämtern unter Beilegung des Charakters als „Ge
heimer Legationsrat" übertragen worden waren,
nicht zumuten, sich einem „Regierungsrat" — die
sen Titel führte Schmincke — unterzuordnen! Lei
der hat sich Schmincke diese Zurücksetzung gefallen
lassen, vielleicht weil er sich klar darüber war, daß
er mit Widerspruch unmöglich dnrchdringen konnte
und höchstens seine Stellung gefährdete. Luchet
hatte irgendwo in Frankreich eine größere Schloß
bibliothek kennen gelernt und beeilte sich nun, seine
Eignung zum Bibliotheksleiter dadurch nachzuwei
sen, daß er den in der Bibliothek vorhandenen Sach
katalog durch einen neuen ersetzen ließ, desten
System eben jener Schloßbibliothek entlehnt war.
Daß dieses für eine ganz anders geartete Bibliothek
zugeschnitten war und daher auf die Kasteler und
hessischen Verhältnisse gar nicht passen konnte,
machte ihm wenig Sorgen. Er wußte sich der Zu
stimmung des Landgrafen sicher, ließ die vor allem
von Strieder erhobenen Vorstellungen unberücksich
tigt, schenkte auch der Tatsache, daß mit einer sol
chen in keiner Wbise begründeten Änderung die
Arbeit von Jahrzehnten mit einem Schlag ver
nichtet wurde, wenig Beachtung und erzwang die
Durchführung seines Plans, für die Hilfskräfte,
die natürlich ungeschult und meistens auch gänzlich
ungeeignet waren, eingestellt wurden. Ilm das
Verhängnis voll zu machen, fiel die Zeit dieser
revolutionären Umgestaltung der Bibliothek zusam
men mit der Vorbereitung für den Umzug in das
neue Gebäude — die unausbleibliche Folge war ein
ungeheuerliches Durcheinander, in dem die Bücher
aus allen gegebenen Zusammenhängen gerissen wur
den und noch dazu teilweise auch Schaden erlitten.
Der Skandal war so groß, daß man auch außer
halb Kassels und Hessens darauf aufmerksam
wurde — in der Gothaischen Gelehrten Zeitung
von 1781 wurde das Ganze einer vernichtenden
Kritik unterzogen. Das Vertrauen, das Friedrich
in seinen Günstling setzte, konnte aber durch nichts
erschüttert werden; Luchet blieb im Amte und
konnte vor allem Strieder seine Ueberlegenheit
fühlen lasten, bis das plötzliche Ableben Fried
richs IT. und der Regierungsantritt Wilhelms IX.,
der so ganz anders geartet war wie sein Vater, der
unheilvollen Franzosenwirtschaft auch auf der Bi
bliothek ein Ende machte. Luchet raschstens zu
entfernen wurde um so leichter, als eine Revision der
Bibliothek ergab, daß der saubere Herr sich auch
als Lieferant der Bibliothek eingeschaltet und dabei
ausgezeichnet in seine Tasche zu arbeiten verstanden
hatte. Glücklicherweise hatte Strieder, der in
diesen Jahren den Glauben an eine bessere Zukunft
nie verloren hat, die alten Kataloge vor der von
Luchet angeordneten Vernichtung zu retten gewußt;
sie kamen nun wieder zu Ehren, dienten Strieder
als Grundlage eines neuen Katalogs, den er mit
voller Anpassung an die tatsächlich vorhandenen
Bestände und die gegebenen Notwendigkeiten in
Jahren hingebender Tätigkeit ausarbeitete. iWie
lange er still und unverdrossen hat arbeiten müssen,
meldet kein Aktenstück; als aber die neue Fran
zosenzeit hereinbrach, vor der Strieder das Feld
räumte, und als die Verhandlungen über die nun
mehr „königliche" Bibliothek ein Zurückgreifen auf
die Kataloge notwendig machten, standen diese
wohldurchgearbeitet und zuverlässige Auskunft
gebend zur Verfügung. Striederscher Zähigkeit
und Striederschem Opfersinn allein ist es zu danken,
daß die Bibliothek diese „Revolution" ohne dauern
den Schaden überwunden hat!
Daß die Bibliothek in ihrem inneren Aufbau,
dem Charakter ihrer Bestände von den Liebhabereien
oder auch wissenschaftlichen Neigungen des jeweili
gen Landeöherrn wesentlich beeinflußt wurde, war
unvermeidlich, so lange sie Hofbibliothek war, deren
Benutzung dem Untertanen nur aus Gnaden ge
währt wurde, über deren Art und Vermehrung nie
mand Rechenschaft verlangen konnte. Immer wie
der waren eö gelegentliche Erwerbungen ganzer
Büchersammlungen und kostbarer Werke, die den
Zuwachs ausmachten, ^aber keine klare Anschaf
fungspolitik verraten konnten. Man war bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts von der Absicht ge
leitet, bei den Neuanschaffungen alle Fakultäten
zu berücksichtigen — hatte man doch in Kastel in
dem Collegium illustre Carolinum eine Art
Universität, der in vollem Umfange gerecht zu wer
den als dringendes Gebot empfunden wurde. Und
doch läßt sich schon seit der Mitte des 18. Jahr
hunderts eine gewisse Bevorzugung der Geschichte
und Altertumskunde, der Naturwissenschaft und
des Staatörechtg feststellen.
Seit der Vereinigung der Bibliothek mit den
natur- und kunstgeschichtlichen Sammlungen im Ge
bäude des Museum Fridericianum und der im
Jahre 1777, also gleichzeitig mit der Grundstein
legung des Baues erfolgten Begründung der 80-
ciété des Antiquités durch Landgraf Friedrich II.