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und nach Ostern fuhren die beiden Brüder zusam
men mit Paul W i g a n d und Ernst Otto
von der Nt a l S b u r g in einer Lohnkutsche
über Jesberg, wo man über Nacht blieb, zur Uni
versität Marburg. Außer der Einwilligung des
Direktoriums mußte Wilhelm Grimm eine beson
dere Erlaubnis zum Studieren vom Kurfürsten ha
ben. In seinen in der Kasseler Landesbibliothek auf
bewahrten „Denkwürdigkeiten", Bd. I, S. 260 ff.
erzählt Paul Wigand, wie er bei seiner Ankunft
in Marburg Schwierigkeiten durch den Rek
tor wegen Aufnahme in die Matrikel bekam,
weil er nicht die landesherrliche Erlaubnis zum
Studieren eingeholt hatte. Denn nach einer
Es dürfte für viele Leser dieser Zeitschrift neu
sein, daß der Titel, ven ihr der treffliche Zwenger
seiner Zeit gab, der einstige Landschrei der Herren
ist; für alle aber hat es wohl Interesse, etwas über
das Alter und die Überlieferung dieses Not- und
Kampfrufs unserer Voreltern zu erfahren.
Der erste neuere Hinweis darauf ist merk
würdiger Weise nicht früher erfolgt als in dem
1897 erschienenen Bd. I des „Oberhessischen Wör
terbuch", das wir unter dem Namen des vorletzten
Bearbeiters Wilhelm Crecelius citieren: S. 461 f.
wird dort über das „Hefsenlandgeschrei" gehan
deltes dazu hat in den Ouartalblättern d. Hist.
Ver. f. d. Grhzt. Hessen N. F. Bd. II S.
714 s. (1900) der vor kurzem verstorbene August
Roeschen einen Nachtrag gegeben. Mehr ist mir
nicht bekannt.
In einem Rechtsstreit zwischen der Landesherr-
schaft und den Ganerben des Gerichts Busecker
Tal (bei Gießen) vom Jahre 1574 sagen viele der
vernommenen Zeugen über das Geschrei „Hessen-
land!" aus, wobei man den Eindruck hat, daß es
sich um etwas Altüberkommenes, aber nicht mehr
ganz Lebendiges handele. Ein 7ojähriger Bauer
aus Burkardsfelden hat von den Alten gehört:
wenn man „Hefsenland!" schreie und die Unter
tanen nicht folgen, so wären sie in des Landgrafen
Strafe — er erwähnt aber noch einen Fall aus
jüngerer Zeit, wo ein Junker einen Bauernjungen
habe gefesselt ins Gefängnis schleppen wollen: auf
den Notruf „Hefsenland!" seien sofort die Nach
barn herbeigeeilt, und es wäre dem adlichen Herrn
übel ergangen, wenn er nicht den Bengel schleu-
i) Was Bd ll S. 942 als Beisteuer vor mir steht,
wird im nachfolgenden stillschweigend berichtigt: ich hatte
die Notiz s. Z. aus dem Gedächtnis gegeben.
Verordnung stand die Freiheit zum Studium
nur den obersten Rangklafsen zu, während die
niederen, zn denen auch die Professoren gehörten,
eine besondere Erlaubnis einholen mußten. Da
aber Wigands Vater nicht nur Professor an der
Kadettenschule, sondern auch Geheimer Hofarchivar
war und als solcher in der oberen Rangklafse stand,
erhielt sein Sohn ohne Anstand die Matrikel.
Der in dem Brief erwähnte Burchardi,
der wohl auch für Jakob die landesherrliche Er
laubnis zum Studium eingeholt hatte, war der
Oberappellationsgerichtsrat Burchardi, früher in
Hersfeld, ein Verwandter der Grimms.
Edward Schröder in Göttingen.
nigst losgelassen und sich selbst aus dem Staube
gemacht hätte. Hier lernen wir also das Geschrei
gleich in zwei Bedeutungen kennen: als Auf
gebot des Landesherren und als Notschrei
eines unmittelbar bedrängten Untertanen.
Ins 15. Jahrhundert zurück reicht der von
Roeschen aufgespürte Fall. 1495 sollte ein Deutsch
ordenspriester einen „armen Mann" des Land
grafen schwer mißhandelt haben, der dann in
höchster Leibesnot „Rette Hefsenland!" schrie und
von einem daraufhin herbeigeeilten Schäfer befreit
wurde. Der Priester bestritt die Mißhandlung des
Holzfrevlers, bestätigte aber im übrigen den Vor
gang: den Schrei „Hefsenland!" und dessen Wir
kung. Auch hier haben wir es mit dem N 0 t -
s ch r e i zu tun.
Der dritte Fall ist viel älter und besonders inter
essant durch die Umstände sowohl bei dem Vorgang
selbst wie bei der Überlieferung. Um das Jahr
1400 schrieb ein hessischer Landsmann, der als
Herold im Dienste der Deutschherren in Vvest-
prenßen stand,' W i g a n d von M a r b u r g ,
eine umfangreiche gereimte Ordenschronik, von der
uns leider nur wenige Hundert Verse erhalten find;
aber ein glücklicher Zufall — oder war eö kein sol
cher? — hat es gefügt, daß dies Werk vielleicht 50
Jahre später wieder von einem unserer Landölente,
Konrad Ghes seien aus Geismar (aus wel
chem hessischen Orte dieses Namens wissen wir
nicht), der zwischen 1430 und i4?o, zuerst als
Student in Rostock, später als Lehrer und Pfarrer
in Thorn nachweisbar ist (vgl. über ihn Nt. Perl
bach in der Altpreuß. Monatsschrift 32, 411 ff.),
in lateinische Prosa übertragen wurde (hersg. von
Hirsch in den Lcriptores rerum Prussicarum II),
die zwar nichts weniger als mustergültig, dafür aber
„Hess enland!" Unser altes Landgeschrei. Von Prof.