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als Besitz ihres Bundesgenossen nach Möglichkeit
gut behandelten, daß andererseits die evangelischen
Heere das evangelische Marburg und besonders
seine Universität auch oft schonten und mit Sicher
heitsbriefen bedachten.
Zwar an dem allgemeinen Kriegselend, am
Darniederliegen von Handel und Verkehr, an den
von der flüchtigen Landbevölkerung oder durch
marschierenden Heeren eingeschleppten Seuchen, be
sonders der Pest, an Lieferungen für den Unterhalt
dieser Heere litt auch M'arburg, aber es wurde
doch nicht, wie so viele niederhesfische Städte, ganz
niedergebrannt und nur einmal am Schluß des
Krieges geplündert. Auch die unserer „Inflation"
von 1923 in ihren Auswirkungen täuschend ähn
liche „Kipper- und Wipperzeit" hat der Stadt
sehr geschadet. War das steuerbare Vermögen der
Bürgerschaft vor dem Kriege ans 312 000 Guloen
geschätzt worden, so betrug es 1623, als der Krieg
der Stadt zum erstenmal wirklich nahekam, nur
noch 148000. Der Reichstaler hatte auch nur
noch */20 seines früheren Wertes. Viele reiche
Leute waren bettelarm geworden. (Mit größter
Strenge durchgeführte Maaßregeln der Regierung
schufen endlich Abhilfe. Diese Strenge wurde den
ganzen Krieg hindurch aufrechterhalten und schützte
die Bevölkerung wenigstens vor dem Verhungern.
'Alle Preise von Lebensmitteln, aber auch die Löhne
wurden auf das frühere Maß herabgesetzt und
scharf überwacht. So mußten z. B. noch 1643
zwei Bäcker, deren Ware zu leicht befunden wurve,
ihr ganzes Gebäck an die Siechenhänser und das
Hospital abliefern, je 30 Rtlr. Strafe zahlen (das
entsprach dem Wert von drei Kühen!) und bis zur
Zahlung ihrer Strafe in den Turm.
Nach Verlust der Hofhaltung war die Ilniver-
fität der bedeutendste wirtschaftliche Faktor der
Stadt. 1608 hatte die Zahl der Neuimmatriku-
lationen 213 betragen, 1618 noch 123, im Jahre
1633 nur noch 33. Die gewaltsame Einführung
der „Verbefserungspunkte" des Landgrafen (Moritz
mit Vertreibung der Marburger Professoren der
Theologie und Absetzung von über 60 streng luthe
rischen Pfarrern in Oberhefscn hatte Darmstadt
veranlaßt, 1607 in Gießen eine eigene Universität
zu gründen, die nach der Besitzergreifung von
M'arburg 1623 unter großen Feierlichkeiten nach
M'arburg zurückverlegt wurde. Aber während bis
dahin die Hälfte der von Philipp dem Großmütigen
gestifteten Univerfitätseinkünfte aus dem südlichen
Hessen von Darmstadt gesperrt wurden, sperrte
nun Kassel die andere Hälfte aus dem nördlichen
Hessen. So kam auch die Universität in den
Nöten des Krieges immer mehr herunter. Sie
hatte, als 1645 die Niederhessen (Marburg wieder
eroberten, nur noch fünf Professoren. Da diese der
Kasseler Negierung den Treueid weigerten, wurven
sie in einer Kutsche nach Gießen gefahren. Be-
wunderswert ist ihre Uberzeugungstreue; trotzdem
sie jahrelang ohne Gehalt gewesen waren und
Kassel ihnen volle Zahlung des rückständigen Ge
haltes zusicherte, ließen sie sich nicht wankenv
machen. Gleiche Charakterstärke zeigte übrigens
auch die Bürgerschaft. Der Rat verstand sich erst
unter den schwersten Drohungen zur Huldigung
und schob in einer angefügten Erklärung die Sünde
dem zu, der sie zu solchem Eide zwinge. Nach dem
Kriege gründete Darmstadt die Universität Gießen
neu und Niederhefsen verlegte seine inzwischen in
Kassel unterhaltene Universität wieder nach (Mar-
bnrg.
Von wirklichen Kämpfen hat Marburg weit
weniger erlebt als die meisten anderen hessischen
Städte. Die erste Besitznahme erfolgte ganz un
blutig. Nachdem das kaiserliche Gericht in Re-
gensburg die Stadt 1623 den Darmstädtern zu
gesprochen hatte, legte Tilly einige Kompanien in
die Vorstädte. Die niederhesfische Besatzung des
Schlosses wurde ausgehungert. Von da an blieb
M'arburg bis 1643 von eigentlichen kriegerischen
Ereignissen verschont. Natürlich brachte der Vor
beimarsch der Heere — und Marburg liegt an
einer der wichtigsten Heerstraßen — ungeheure
Lasten. Noch im (Mai 1637 befindet sich der Stadt
schreiber, der 1636 bei dem Marsch der niedcr-
hesfisch-schwedischen Truppen zur Befreiung Ha
naus gefangen war, in schwedischer Gefangenschaft
llttd im Juli 1637 muß die Stadt einem kaiser
lichen Heer täglich allein 400 Pfund Brot liefern.
Sonst ist Marburg im schlimmsten Kriegsjahr
Hessens, 1637, dem „Kroatenjahr" der hessischen
Ortschroniken, ziemlich glimpflich durchgekommen,
hat z. B. seine sechs Märkte, wenn auch mit weit
geringerem Besuch als sonst, abhalten können.
Schlimmer wurden erst die letzten drei Kriegü-
jahre. Im März 1643 fordert erst Geyso für
seine niederhesfischen Truppen 10 000 Pfd. Brot,
Anfang (Mai marscbieren die weimarischen Völker
Turenneö durch, ihnen folgen die bayerischen Trup
pen auf dem Fuße, gegen Ende (Mai wieder hes
sische, weimarische und schwedische Völker, die
200 000 Pfd. Brot und andere Lebensmittel ver
langen. Die Stadt tut, soviel sie kann, kommt
aber in große Gefahr, da das, was geliefert wird,
nicht hingefahren wird. Bürger und geflüchtete
Bauern haben ihre Pferde versteckt. Als man end
lich nach Durchsuchung der Häuser vier Gespanne
zusammen hat, werden die Wagen zwar vor die
Tore gefahren, aber dann von den Fuhrleuten ab-