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verlebte er wieder in der hessischen Heimat und
zwar in Marburg an der Lahn, wo er über ein
Menschenalter eine stavtbekannte und hochgeachtete
Persönlichkeit war. Hessin war auch seine L e -
bensgefährtin aus dem alten Geschlecht der
Freiherren Rau von Holzhausen.
Über die wissenschastliche Leistung des ungewöhn
lichen Nrannes berichten Berufene, Ich möchte
heute nur ein paar Einzelheiten zu dem Bilde des
M e n s ch e n Carl Ochsenius beitragen.
Hatte er wirklich schon sieben Jahrzehnte hinter
sich, als ich ihn kennen lernte? Es wird mir heute
noch schwer, es zu glauben. Der lange Übersee
aufenthalt hatte seiner kernfesten Gesundheit nichts
anzuhaben vermocht. Weißhaarig, aber unge
brochen, klaräugig, frisch im Vollbesitze seiner Gei
steskraft, das war „der alte Konsul", wie er in
Marburg hieß; niemand würde ihn einen Greis
genannt haben. So lebensvoll wirkte er beim
ersten Anblick, und so habe ich ihn anderthalb
Jahre im täglichen Umgang gekannt. Für seine
innere Beweglichkeit führe ich nur einen kleinen,
aber ungemein bezeichnenden Zug an. Nie habe
ich einen Nrann seines Alters so ohne alle üm-
stände verreisen sehen. Er brach auf und kehrte
heim, als wenn es sich nur um Straßenbahnfahr
ten handelte. Jahreszeit und Wetter spielten für
ihn keine Rolle; auf seine Bequemlichkeit Rücksicht
zu nehmen, fiel ihm nicht ein. 'Dabei waren es
keineswegs Vergnügungsfahrten, die er unternahm,
sondern Reisen, zu denen ihn seine Tätigkeit als
angesehener Kalifachmann zwang. Doch glaube
ich fast, daß er sie gar nicht als Zwang empfunden
hat; so sehr liebte er es noch in vorgerückten Jah
ren, Land und Leute unterwegs zu beobachten. Seine
immer wache Aufmerksamkeit bescherte ihm an
regende Eindrücke, wo andere gleichgültig vorüber
eilten. Eile war nun allerdings das Einzige, was
dem sonst so Rüstigen versagt war; im Gehen war
er behindert, seit er durch einen Unfall auf der
Eisenbahn den halben rechten Fuß verloren hatte.
Er dachte aber nicht daran, sich deshalb allen ruhe
störenden Ansprüchen zu entziehen; sich vorzeitig
aufs Altenteil zu begeben, war seine Sache nicht.
Daheim in Marburg freilich verließ er sein
herrlich gelegenes Grundstück nur selten. Nicht
nur, weil das steile Auf und Ab der Marburger
Gassen ihm das Gehen besonders erschwerte; wohl
mehr noch, weil er eigentlich alles, was er zu Arbeit
und Freude brauchte, um sich herum hatte. Nicht
weit unterhalb des Schlosses hatte er sich inmitten
anderer Gärten einen eigenen großen Garten statt
lich ausgebaut. Aus allen Fenstern seines Hauses
sah man ins Grüne, ünd still war es da! Kein
Wagen, der nicht unbedingt mußte, fuhr dort hin
auf. Nur zuweilen klang ein Studentenlied von
einem der Verbindnngshäuser sommerlich herüber.
Oder das Tal war bis herauf von Geläut erfüllt:
mit Glockenstimmen rief die Kirche der Heiligen
Elisabeth. Abends ertönte wohl ein Waldhorn aus
der Nachbarschaft. Sonst hatten nur die Vögel
im Garten das Wort. Ja, es wohnte sich schön,
an der Renthofstraße, schön und naturnah. Der
alte Konsul kannte seden Strauch auf seinem
Grund und Boden und übersah nicht leicht etwas,
was da blühte.
Auch was er zur Arbeit nötig hatte, war ihm
in seinen vier Wänden zur Hand. Im Erdgeschoß
hatte er sein Reich, NUneralienkabinett und Stu
dierstube. Dort saß er bei uneuropäisch hoher Zim
mertemperatur, umgeben von seinen „Papieralien",
wie er nach dem Beispiel von „Mineralien"
Schriften und Drucksachen, die sich um ihn häuf
ten, scherzend zu nennen pflegte. Dort arbeitete er
an seinem Schreibtisch, ünd wie er noch ar
beitete! Ich habe ihn nie müde gesehen. Er war
einer von denen, deren geistige Spannkraft nicht
erlahmt. In erster Linie Naturwissenschaftler,
doch darum nicht teilnahmslos gegenüber Er
scheinungen, die außerhalb seines eigenen Studien
gebietes lagen, stets aufnahmebereit, aber keiner
Mode verfallen, sich immer sein unabhängiges Ur
teil wahrend, durch und durch ein Eigener, so lebt
er fort für die, die ihn näher gekannt haben.