Full text: Hessenland (40.1928)

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recht unscheinbar.) Ich habe damals mehrfach 
die Stahlfeder ausgetauscht, mit der sie ihre 
deutschen Diktate schrieb, und gegen solche be 
gehrten Wertstücke dann Briefmarken einge 
handelt. 
Emilie Strubberg bewohnte zuletzt die erste 
Etage des Hauses Frankfurter Straße Nr. 5 
(jetzt 34) (das dritte von oben auf der West 
seite), zusammen mit ihrem Bruder Frederic 
Armand, der um ein Jahr jünger war als sie. 
die Schwester aber um noch fast 14 Jahre 
überleben sollte. Diesen Bruder liebte sie 
zärtlich; sie hatte ihm alle seine Sünden ver 
ziehen, auch die schwerste, daß er zunächst in 
seiner Untätigkeit, dann in seinem Abenteurer 
leben, die gewiß nicht ganz unbedeutenden 
Reste des väterlichen Vermögens aufgebraucht 
hatte. Sie glaubte an seine hohe Begabung 
und ertrug es schwer, daß sein literarisches 
Renommee rasch sank und mit ihm die Ein 
nahmen verkümmerten. Mit schmerzlichem 
Hinweis auf den Kontrast zeigte sie mir das 
erste, bei Cotta in vornehmer Ausstattung er 
schienene Werk, als sie mir (1874) das letzte 
Buch des Bruders schenkte, mit dem er nach 
vergeblichem Anklopfen bei anderen Firmen 
schließlich im Verlag der „Bohemia" in Prag 
gelandet war: „Zwei Lebenswege" hieß es — 
es waren aber nicht die von Bruder und 
Schwester Strubberg. Armand hatte seine 
aufgereizte und niemals wahrhaft fruchtbare 
Phantasie früh erschöpft und sich in überhaste 
ter Produktion rasch ausgeschrieben. Damals 
wird er wohl nur von dem gelebt haben, was 
ihm die Agnaten des hessischen Fürstenhauses 
(der Landgraf Alexis und besonders dessen 
jüngerer Bruder Wilhelm von Hessen-Phi- 
lippsthal-Barchfeld) zukommen ließen; wenn 
sie ihm später nicht so viel zahlten als er er 
wartet hatte, so geschah dies, weil sie recht 
wohl wußten, daß sie, was erreicht war, der 
juristischen Tüchtigkeit des Rechtsanwalt Ren 
ner verdankten, und nicht der publizistischen 
Arbeit Strubbergs, wie dieser selbst sich ein 
bildete?) 
Emilie war hochgewachsen wie der Bruder; 
ihr dunkles Haar, das sie straff anliegend trug, 
war nur wenig ergraut, ihre Haltung aufrecht 
und fast stolz, ihr Gang, wenn sie durch die 
Zimmer schritt, rasch und elastisch. Sie stand 
fast in jeder Unterrichtsstunde ein-, zweimal 2 
2 ) Strubbergs Angaben (bei Barba, S. 321) über 
die Höhe der anderweitigen Einnahmen, um bie er 
durch diese Tätigkeiten gebracht sei, sind «ufs be 
stimmteste zu bestreiten. 
von dem Sofaplatz auf, um ein Buch, ein Bild 
oder sonst ein Andenken herbeizuholen. Ihr 
ganzes Wesen sprach von Intelligenz und 
Wahrhaftigkeit — wie sie über die an Verlo 
genheit grenzenden Aufschneidereien des Bru 
ders dachte, wieviel sie überhaupt davon durch 
schaute oder auch nur erfuhr, weiß ich nicht. 
Sie gehörte wohl zu den Liebenden, die nicht 
sehen wollen. 
Der Bruder hatte in seiner Jugend als eine 
Schönheit gegolten, er schien sich noch im Alter 
dafür zu halten, wenn er, den blauen Rad- 
mantel über die Schulter geschlagen, die Belle 
vue oder die Südseite des Friedrichsplatzes in 
großen Schritten auf und ab spazierte: eine 
malerische Erscheinung blieb er bis zuletzt. Die 
Schwester war eher das Gegenteil von schön — 
und sie wußte es. Man erzählte, daß sie in 
ihrer Jugend mit einem ausländischen Ge- 
sandtschaftsattache verlobt gewesen sei, aber 
sich bald zu der Ueberzeugung durchgerungen 
habe, daß ein Mann über die Mängel ihrer 
Gesichtsbildung nicht hinwegkommen könne: so 
löste sie das Verhältnis, zum Kummer (wie 
man es mir dargestellt hat) des wackeren jun 
gen Mannes, der sie wohl als reiche Erbin um 
worben, aber inzwischen wirklich lieb gewon 
nen hatte. 
Wie ich Emilie Strubberg gekannt habe, 
hatte sie nicht nur die Falten und Runzeln 
und die geröteten, leicht tränenden Augen 
vieler alter Frauen, sondern auch eine über 
lange, gekrümmte und dabei bedenklich schiefe 
Rase, sowie eine herabhängende Unterlippe. 
Der erste Eindruck bei meinem Antrittsbesuch 
(damals noch in der Karlstraße) war fast ab 
schreckend: aber er wich bald dem Vertrauen, 
der Hochschätzung, der Zuneigung. Als ich 
wegen der Vorbereitung zum Abiturienten 
examen im November 1875 meine Stunden 
bei ihr aufgeben mußte, war das für uns beide 
gleich schmerzlich — am 30. Januar 1876 ist 
sie dann nach kurzem Kranksein gestorben, am 
Lichtmeßtage haben wir sie begraben: es war 
ein recht kleines Gefolge, und dem schmerzge 
beugten Bruder verzieh ich hier seine theatra 
lischen Allüren. 
Ich habe oben erzählt, eine wie frühe Er 
weiterung meines literarischen Gesichtskreises 
ich Emilie Strubberg verdanke. Ich darf aber 
nicht aus Bescheidenheit verschweigen, daß ich 
ihr dann selbst wieder zum literarischen Hand 
langer wurde. Emilie war allem Anschein nach 
ein Mädchen von ungewöhnlicher geistiger 
Frühreife gewesen: in die Zeit von ihrem 15.
	        

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