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recht unscheinbar.) Ich habe damals mehrfach
die Stahlfeder ausgetauscht, mit der sie ihre
deutschen Diktate schrieb, und gegen solche be
gehrten Wertstücke dann Briefmarken einge
handelt.
Emilie Strubberg bewohnte zuletzt die erste
Etage des Hauses Frankfurter Straße Nr. 5
(jetzt 34) (das dritte von oben auf der West
seite), zusammen mit ihrem Bruder Frederic
Armand, der um ein Jahr jünger war als sie.
die Schwester aber um noch fast 14 Jahre
überleben sollte. Diesen Bruder liebte sie
zärtlich; sie hatte ihm alle seine Sünden ver
ziehen, auch die schwerste, daß er zunächst in
seiner Untätigkeit, dann in seinem Abenteurer
leben, die gewiß nicht ganz unbedeutenden
Reste des väterlichen Vermögens aufgebraucht
hatte. Sie glaubte an seine hohe Begabung
und ertrug es schwer, daß sein literarisches
Renommee rasch sank und mit ihm die Ein
nahmen verkümmerten. Mit schmerzlichem
Hinweis auf den Kontrast zeigte sie mir das
erste, bei Cotta in vornehmer Ausstattung er
schienene Werk, als sie mir (1874) das letzte
Buch des Bruders schenkte, mit dem er nach
vergeblichem Anklopfen bei anderen Firmen
schließlich im Verlag der „Bohemia" in Prag
gelandet war: „Zwei Lebenswege" hieß es —
es waren aber nicht die von Bruder und
Schwester Strubberg. Armand hatte seine
aufgereizte und niemals wahrhaft fruchtbare
Phantasie früh erschöpft und sich in überhaste
ter Produktion rasch ausgeschrieben. Damals
wird er wohl nur von dem gelebt haben, was
ihm die Agnaten des hessischen Fürstenhauses
(der Landgraf Alexis und besonders dessen
jüngerer Bruder Wilhelm von Hessen-Phi-
lippsthal-Barchfeld) zukommen ließen; wenn
sie ihm später nicht so viel zahlten als er er
wartet hatte, so geschah dies, weil sie recht
wohl wußten, daß sie, was erreicht war, der
juristischen Tüchtigkeit des Rechtsanwalt Ren
ner verdankten, und nicht der publizistischen
Arbeit Strubbergs, wie dieser selbst sich ein
bildete?)
Emilie war hochgewachsen wie der Bruder;
ihr dunkles Haar, das sie straff anliegend trug,
war nur wenig ergraut, ihre Haltung aufrecht
und fast stolz, ihr Gang, wenn sie durch die
Zimmer schritt, rasch und elastisch. Sie stand
fast in jeder Unterrichtsstunde ein-, zweimal 2
2 ) Strubbergs Angaben (bei Barba, S. 321) über
die Höhe der anderweitigen Einnahmen, um bie er
durch diese Tätigkeiten gebracht sei, sind «ufs be
stimmteste zu bestreiten.
von dem Sofaplatz auf, um ein Buch, ein Bild
oder sonst ein Andenken herbeizuholen. Ihr
ganzes Wesen sprach von Intelligenz und
Wahrhaftigkeit — wie sie über die an Verlo
genheit grenzenden Aufschneidereien des Bru
ders dachte, wieviel sie überhaupt davon durch
schaute oder auch nur erfuhr, weiß ich nicht.
Sie gehörte wohl zu den Liebenden, die nicht
sehen wollen.
Der Bruder hatte in seiner Jugend als eine
Schönheit gegolten, er schien sich noch im Alter
dafür zu halten, wenn er, den blauen Rad-
mantel über die Schulter geschlagen, die Belle
vue oder die Südseite des Friedrichsplatzes in
großen Schritten auf und ab spazierte: eine
malerische Erscheinung blieb er bis zuletzt. Die
Schwester war eher das Gegenteil von schön —
und sie wußte es. Man erzählte, daß sie in
ihrer Jugend mit einem ausländischen Ge-
sandtschaftsattache verlobt gewesen sei, aber
sich bald zu der Ueberzeugung durchgerungen
habe, daß ein Mann über die Mängel ihrer
Gesichtsbildung nicht hinwegkommen könne: so
löste sie das Verhältnis, zum Kummer (wie
man es mir dargestellt hat) des wackeren jun
gen Mannes, der sie wohl als reiche Erbin um
worben, aber inzwischen wirklich lieb gewon
nen hatte.
Wie ich Emilie Strubberg gekannt habe,
hatte sie nicht nur die Falten und Runzeln
und die geröteten, leicht tränenden Augen
vieler alter Frauen, sondern auch eine über
lange, gekrümmte und dabei bedenklich schiefe
Rase, sowie eine herabhängende Unterlippe.
Der erste Eindruck bei meinem Antrittsbesuch
(damals noch in der Karlstraße) war fast ab
schreckend: aber er wich bald dem Vertrauen,
der Hochschätzung, der Zuneigung. Als ich
wegen der Vorbereitung zum Abiturienten
examen im November 1875 meine Stunden
bei ihr aufgeben mußte, war das für uns beide
gleich schmerzlich — am 30. Januar 1876 ist
sie dann nach kurzem Kranksein gestorben, am
Lichtmeßtage haben wir sie begraben: es war
ein recht kleines Gefolge, und dem schmerzge
beugten Bruder verzieh ich hier seine theatra
lischen Allüren.
Ich habe oben erzählt, eine wie frühe Er
weiterung meines literarischen Gesichtskreises
ich Emilie Strubberg verdanke. Ich darf aber
nicht aus Bescheidenheit verschweigen, daß ich
ihr dann selbst wieder zum literarischen Hand
langer wurde. Emilie war allem Anschein nach
ein Mädchen von ungewöhnlicher geistiger
Frühreife gewesen: in die Zeit von ihrem 15.