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mich nie beeinflußt, er mahnte mich selbst,
die Entscheidung hinauszuschieben, und so ist
sie dann erst gefallen, als ich mich zum Abi
turientenexamen meldete und nun das Stu
dium der Philologie als mein bestimmtes Ziel
angab. Daß ich in der Zwischenzeit neben
den Gymnasialfächern die neueren Sprachen
gepflegt habe, ist mir auch für das Studium
sehr zugute gekommen.
Seit dem Sommer 1872 habe ich englischen
und seit 1873 spanischen Privatunterricht ge
nommen, beides bei Fräulein Emilie Strub
berg, die, am 18. Januar 1805 geboren, da
mals in ihrem 68. Jahre stand. Diese Leh
rerin hatte mein Vater für mich ausgemacht:
sie war ihm von den Herren empfohlen wor
den, die er bei seiner gelegentlichen Einkehr
in der Goullonschen Weinstube in der Un
teren Karlstraße zu treffen pflegte; ob sich
unter ihnen auch der Bruder Frédéric Ar
mand befand, vermag ich nicht zu sagen, glaube
es aber nicht, da dieser meines Wissens nur die
am Friedrichsplatz belegene Weinstube (die
alte Berningersche) besuchte.
Um sofort die Wahrheit zu bekennen:
eigentlich haben die Goullonschen Stammgäste
meinen Vater nicht gut beraten! Fräulein
Strubberg hat mir das, was ich nach dessen
Absicht lernen sollte, englisch und spanisch
sprechen und korrespondieren, in drei und
einem halben Jahre nicht beigebracht. Das
lag zunächst daran, daß sie sich einer höchst
umständlichen Methode bediente: im Anschluß
an die Ollendorffschen Lehrbücher, deren welt
fremde Schwerfälligkeit schon damals ein
Gegenstand des Spottes war. Dann aber
entdeckte sie zu früh mein lebhaftes Interesse
an der schönen Literatur: meine Sprachkennt-
nisse reichten bald aus, mit ihr englische und
später leichtere spanische Bücher zu lesen:
einerseits Washington Irving und Dickens, zu
letzt Shakespeare, anderseits Fernan Cabal-
lera und Antonio de Trueba, sowie ein neue
res Lustspiel; aber den Versuch, uns darüber
in der fremden Sprache zu unterhalten, gaben
wir immer wieder auf. Und es blieb nicht
bei Englisch und Spanisch: wir haben auch
Portugiesisch gelesen: Stücke der Lusiaden des
Camoens und einzelne alte Minnelieder und
Legenden; weiter Italienisch: den „Aminta"
des Taffo — dann Holländisch: Fabeln des
Jacob Cats; und schließlich sogar etwas Eze-
chisches, wahrscheinlich aus der längst als un
echt erwiesenen sog. Königinhofer Hand
schrift. Natürlich blieb es da meinerseits
vielfach beim Stolpern und Raten — und dem
eigentlichen Zweck dieses Unterrichts wurde
viel Zeit entzogen. Aber ich dankte Fräulein
Strubberg eine frühe Erweiterung meines
literarischen Horizonts, ich dankte es ihr, daß
ich an das Universitätsstudium der neueren
Fremdsprachen, das ich von Anfang an neben
dem der deutschen Sprache in Literatur be
trieb, mit einer Vorbildung und mit einer
literarischen Orientierung herantrat, wie sie
nur ganz wenige meiner Kommilitonen auf
die Hochschule mitbrachten.
Wie war nun Emilie Strubberg selbst in
den Besitz all dieser sprachlichen Kenntnisse ge
kommen? Französisch fließend zu sprechen,
hatte sie schon im Elternhause gelernt/), und
das Englische war schon früh hinzugetreten;
Italienisch war ihr m. W. auch durch einen
längeren Aufenthalt in Florenz früh vertraut
geworden. Als sie nach dem Verlust ihres
Vermögens gezwungen war, sich mit Privat
unterricht und gelegentlichen Dolmetscher-Ar
beiten durchzuschlagen, hatte sie, unterstützt
durch einen leidenschaftlichen Eifer, sich frem
der Literatur zu bemächtigen, auch Niederlän-
disck. Spanisch und Portugiesisch gelernt, z. Tl.
wohl auch, um Auswanderer, die nach Ba
tavia, Chile oder Brasilien gingen, für die
neue Heimat sprachlich vorzubereiten. Die
Erlernung des Czechischen hatte einen beson
deren Grund: in der Zeit von 1840—1865
traten nicht ganz selten junge Hessen in die
K. K. Armee ein, sowohl solche aus dem hessi
schen Adel wie bürgerliche Katholiken aus
Fulda und Fritzlar: diese aber mußten bei
ihrer Aufnahme gewisse Kenntnisse wenig
stens in einem der fremden Idiome des viel
sprachigen Halbsburger Reiches nachweisen —
und mit solchem (meist recht elementaren) Be
sitz stattete sie meine Lehrerin aus, indem sie
neben dem Italienischen eben das Ezechische
zur Wahl stellen konnte.
Daneben gab sie auch deutschen Unterricht
an Ausländer: so löste mich längere Zeit in
der Stunde die kleine blonde Polin Fräulein
Braciszewska ab. die um jene Zeit an der Oper
angestellt war und als Marie in der Regi
mentstochter und in anderen Rollen meine
Klassenkameraden wohl mehr als mich selbst
begeisterte. (Ihre bürgerliche Erscheinung war *)
*) Die Mutter stammte aus der französischen
Kolonie: sie war eine geborene Maroille, Tochter
eines Kanzleiregistrators; der Bruder hat daraus
eine „Marquise de Marville" gemacht (s. Hessenland
1911, 6. 364), wie er ja auch zu seinem Urgroßvater
den König Friedrich I. von Schweden ernannte.