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Maria!" war ihr schmerzliches Echo in dem
mit verzweifelter Haft hinüberstrebenden
Boote.
Getroffen, jubelte es am Lande; getroffen,
stöhnte es auf dem Wasser. Aber der Kahn
schoß, in der Nacht verschwindend, immer
weiter und weiter hinüber.
Morgendämmerung?)
Heureux villageois, dansons:
Sautez, fillettes
Et garçons
Unissez vos joyeux sons,
Musettes
Et chansons!
Béranger,
Wir müssen, hinter unserem verschwunde
nen Helden drein, eine Entdeckungsreise an
treten. Der geneigte Leser, welcher uns so
weit gefolgt ist und noch weiter zu begleiten
denkt, mag sich gut vorsehen mit gesunden
Sinnen und starken Sohlen. Denn aus dem
blendenden Glanz, dem fremdartigen Duft
des königlichen Prunkgemaches, vom schlüpf
rigen Hosparkett weg, führen wir ihn durch
den Staub der Landstraße in die Stickluft
einer Bauernschenke, in den idyllischen
Schmutz eines Dörfleins.
Halsdorf*) **) heißt dieses Dörflein, oder
Holzdorf, wie andere Leute schreiben und
sprechen. Streiten wir nicht über den rich
tigeren Namen, gleich den Gelehrten über
Grätz und Gratz; es würde die Mühe nicht
lohnen bei einem so dunklen, schlichten Platze.
In der Zeit freilich, da wir ihn besuchen, war
er noch nicht so verlassen und öde als heutzu
tage; es standen ansehnliche Häuser an der
Straße, die jetzt verfallen und leer sind, der
Frachtwagen und der Karren gab's Tag und
Nacht kein Ende, und in den zahlreichen Her
bergen wimmelte es jahraus, jahrein von
fremden und einheimischen Gästen. Damals
führte nämlich die große, sehr belebte Heer
straße von Frankfurt nach Kassel durch Hals-
dorf und die Post wechselte daselbst die Pferde.
Das war die gute alte Zeit, wo jede ordentliche
Chaussee im lieben deutschen Vaterlande als
würdiges Kunstziel es sich vorgesteckt hatte,
alle in ihrer Richtung möglicherweise erreich
baren Anhöhen, benebst entsprechender Ver
*) Mit diesem Kapitel, dem ersten des siebenten
Buchs, beginnt der zweite Band.
**) Halsdorf bei Rauschenberg ist bekanntlich
Dingelstedts Geburtsort. [H.]
tiefung, unterwegs aufzusuchen und in men
schenfreundlicher Uebung des Grundsatzes
„Leben und leben lasten" sämtliche Oerter und
Oertchen, Weiler und Wirtshäuser, meilen
weit in der Runde, gleich Perlen an einer
Schnur, an ihren malerischen Windungen in
bunter Wechselfolge einladend aufzureihen. Die
glückliche Welt wußte damals so wenig von
Eisenbahnen, wie von Vereinen gegen Tier
quälerei. Das liebe Vieh rackerte sich ehrlich
ab auf den steilen, staubigen Steigungen des
Weges, und der Mensch ging behaglich zu
Fuße nebenher, weil es ihn noch nicht, wie
jetzunder, eher anzukommen als abzureisen
drängte. Die ehrwürdige Postschnecke, — auf
althessisch Dehlischankse genannt, — brauchte
auf der Strecke zwischen Frankfurt und Kassel
ihre geschlagenen dreimal vierundzwanzig
Stunden, und bloß dreimal unterwegs umge
worfen, am Vilbeler, Schönstätter und Mel-
sunger Berg, galt für eine ausnehmend glück
liche Fahrt. Nicht wahr, da konnte einer noch
mit Tug und Recht ausrufen: o welche Lust
gewährt das Reisen!?
Halsdorf besaß auch und besitzt noch, un
mittelbar neben dem alten Posthause, solch
einen halsbrechenden Straßenbuckel, dem der
ganze Ort seinen Verfall zu danken hat. Die
Station ist nach Iosbach verlegt, die Straße,
um mit dem Herrn Wasser- und Wegebauin
spektor zu reden, korrigiert worden, das heißt:
sie macht einen vornehmen Bogen um Hals
dorf und läßt das arme Nest links liegen. Die
Perle, von der Schnur abgefallen, verliert sich
abseits im Sande. Ein kostbares Gleichnis für
den bescheidenen, stillen Flecken.
Das letztere, still nämlich, war er nicht, viel
mehr das gerade Gegenteil, als der letzte Sonn
tag im Maimonde des Iabres 1809 mit tiefer
Himmelsbläue und bellen Nachmittagsstrahlen
über seinen Hütten lag. Ein Sonntag in
einem oberhessischen Dorfe, in jener frucht
baren Gegend zwischen Lahn und Schwalm,
ist sonst — und die Zeit wird wenig daran
verändert haben oder verändern — ein rechtes
Bild des Friedens und der Behäbigkeit, das
bloß im Herbste, um die Kirmeß herum, lau
tere und bewegtere Staffage anzunehmen
pflegt. An gewöhnlichen Sonn- und Feier
tagen sieht das Auge weit und breit nichts wie,
je nach der Jahreszeit gefärbt, grüne, gelbe,
braune, weiße Felder; Wiesenstreifen, Baum
gruppen, Stroh- und Ziegeldächer dazwischen;
ein Bach mit seinem Steg; der spitze Kirch
turm und darauf ein sorgsam gehegtes Stor
chennest, oder, durch Wind und Wetter schief