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ter dem durchschneidenden Kiele schäumend zu
sammenschlug und unwiderstehlich zum Por
tal des Schlosses hindrängte. Da half kein
Steuern und kein Zwängen, kein Ordnen und
Verbieten mehr; alles durch und überein
ander!
An der Schloßtreppe standen seit neun Uhr
morgens, mit bloßen Nacken und Armen, jene
gewissen unausweichlichen weißgekleideten
Jungfrauen, — stehende Figuren in solchen
Gemälden, in jeder Schule dieselben vom An
fang der absoluten Monarchie bis zum Ende
der relativen Republik, — rührende Allego
rien der städtischen Unschuld mit knieschlot
ternder Angst und herzklopfender Langeweile,
je nach der Jahreszeit in heilsamem Schweiß
oder gelindem Zähneklappern befangen, Blu
men streuend, die in zitternden Händen längst
verwelkt sind, und Gedichte stotternd, die kein
Mensch versteht, es sei denn der zornig von
fern stehende Verfasser. Ein günstiges Un
gefähr trug in die Nähe dieser schönen Fulda
kinder, unmittelbar an die Säulen am Ein
gang des Schlosses, unsern Valentin. Zwar
sah er weder den König, noch die Königin,
welche von Rosen und Versen verfolgt, lang
sam die breite Staatstreppe hinangestiegen,
dafür hatte er aber, — es gibt noch Ahnungen
in der Welt, — das ersehnte Abenteuer, ge
sehen zu werden. Einer von den Generälen
aus des Königs Gefolge, der länger, als un
umgänglich nötig gewesen, unter den Weiß
gekleideten sich umschaute und erging, streifte
zufällig mit einem Blicke den Waghals, wel
cher so weit vorgedrungen war. Valentin
fing hastig den Blick auf und grüßte tief, je
doch mit der Miene eines guten, alten Be
kannten. Der General, es war richtig Morio,
nahte und rief hinüber: „Viens, tiens, voilà
eneore mon quicke!" — Oui, mon général,
klang es keck zurück, le voilà, partout et tou
jours à vos ordres. — Der General trat um
einen Schritt näher, durch das erstaunt zu
rückweichende Volk und musterte das blaffe
stumme Mädcken an Valentins Hand. „O'est
doue votre soeur?" fragte er. — O'est eile.
— „Pas mal; à revoir, mon ami." Jenes
murmelnd, dieses laut hinzusetzend, eilte der
General zurück und verschwand im Gefolge
des Königs. Alle Zeugen dieses kurzen Auf
tritts, die mit maßlosem Erstaunen gehört
hatten, wie ein französischer General den vor
lauten Burschen seinen Freund geheißen und
sogar mit ihm parliert hatte, machten dem nun
überglücklich davoneilenden Helden und seiner
Begleiterin willig Raum; selbst auf Mephisto
fiel ein Teil dieser Ehre zurück, ungebeten
schlüpfte er unter den Füßen der Menge
durch, seinem Herrscherpaare nach, in die be
reits wohlbekannte Straße zum „Goldenen
Fäßchen".
Glücklich wie ein König, setzte sich Valentin
zu seinen Salzkartoffeln nieder. Glücklicher
vielleicht, als der König, welcher um einige
Stunden später, um vier Uhr, an der wohl
besetzten Host und Galatafel den Ehrenplatz
einnahm. Wir kennen die entzündliche Ein
bildungskraft unseres jungen Freundes ge
nug, um zu wissen, daß ein unbedeutender
Funke sie zu hochlodernden Freudenfeuern
hinriß. Die flüchtige Begegnung mit General
Morio gestaltete sich für sie zu einem festen
Punkte, woran die schönsten, goldensten Fäden
seiner Zukunft aufs neue mit der Schnellig
keit und Zähigkeit der emsigen Spinne ange
heftet wurden. Nicht so Marie. Sie hielt
sich noch stiller, als ihre gewöhnliche Art war.
Hatte der Raubvogelblick, welchen der Fran
zose auf das Mädchen heftete, sie scheu ge
macht? Die unschuldige Taube deutete oder
bemerkte diesen Blick nicht einmal, welcher
über die eckigen herben Züge und Formen
des Kindes mit einem ahnenden Vergnügen
an ihrer einstigen Entwickelung hinglitt. Das
„Pas mal" verstand sie nicht, auch wenn sie
es gehört hätte, und Valentin hörte es nicht.
Aber es war, wie der Bruder auch wahrnahm,
seit dem kleinen Abenteuer, das ihn so zu
frieden stellte, ein dunkler Schatten über die
Stimmnug Mariens gezogen. Vergebens
drang er mit Fragen und Forschungen in sie;
erst als er heftig wurde, sie der Launenhaftig
keit, der Teilnahmlosigkeit an seiner Freude
beschuldigte, erst da brach sie in Tränen aus
und sagte gebrochen:
„Was hilft es auch, daß ich es Dir mitteile?
Du verstehst es nicht, Du glaubst es nicht."
— Geht's da hinaus, Marie? Also wieder
um eine von Deinen Visionen, die Dich quält,
ein Rückfall in Deine alte Kinderkrankheit?
Pfui, Marie!" —
Das Mädchen schüttelte schwer mit dem
Kopfe; beide Hände hatte sie vor das blasse,
leidende Gesicht geschlagen, und durch die
Finger quollen einzelne heiße Tropfen. Va
lentin erschrak, als er mit sanfter Gewalt ihre
Hände an sich zu ziehen versuchte: aus dem
feuchten Blick der Schwester schlug ihm wie
derum jener unheimliche Seherglanz entgegen,
der in früher Zeit so oft sie und ihn verfolgt
hatte. Der Stern des sonst so klaren, milden
Auges schien, größer geworden als gewöhnlich,