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Eine Reise nach Kassel im Jahre 1797.
Aus der Selbstbiographie Ludwig Lindenmeyers.*)
(Schluß.)
Nach Tische wurde vor allen Dingen die
neu angelegte Felsenburq oder Löwenburg,
worin noch immer gebaut wird, besichtigt. Es
ist dies ein sehr weitläufiges Gebäude auf
einer Anhöhe, von der man die vortrefflichste
Aussicht hat, und stellt die Ruine von einem
alten mit Graben, Zugbrücken und Türmen
versehenen Ritterschlosse vor. Alles stimmt
zu diesem Zwecke überein, sogar der Schutt,
welcher an den Seiten aufgehäuft ist. Einer
der Türme scheint zusammengestürzt zu sein,
und der andere, in der Höhe von 120 Fuß
oben mit einer Galerie versehen, enthält eine
fürstliche Wohnung, ist aber auch inwendig
ganz nach dem Geschmacke der Ritterzeiten ge
malt und möbliert. Kleine eckichte Stübchen,
rund herum mit Panzern und Helmen in er
hobener Arbeit verziert, alte Lehnsessel,
Tische mit Teppichen, farbichte Glasscheiben,
alles versetzt den erstaunten Wanderer in
längst verflossene Zeiten zurück, nur die herr
liche Aussicht von der Galerie des Turms
endet die Täuschung. Wir wandelten von da
durch manchfaltige angenehme Krümmungen
und Schattengänge nach einem kleinen Häus
chen hin mit der Ueberschrift: „Socrate";
denn leider glaubt man in Kassel und hier
mitten in Frankreich zu wandeln, da die
meisten Inschriften an den Häusern franzö
sisch sind. Sokrates sitzt in dieser Einsiedelei
an 'einem kleinen Tischchen vor seinen Bü
chern. Hier hat das Auge die reizendste Aus
sicht, in der Tiefe den großen See und in der
Ferne eine Landschaft, die man nicht male
rischer denken kann. Ich bewunderte das
schöne Plätzchen, ohne mich dabei aufzuhalten,
weil ich noch ein anderes merkwürdiges
Schauspiel erwartete. Eine liefländische Herr
schaft wollte die Wasserkünste sehen, und wir
hatten also das Vergnügen, sie mit anzusehen,
ohne die sonst gewöhnliche Taxe, eine Karolin,
bezahlen zu dürfen. Vorher aber mußte noch
eine sehr beschwerliche Exvedition unternom
men werden. Ich hatte vormittags meine
Tabakspfeife unten an der Pyramide, worauf
die Statue des Herkules steht, liegen lasten
und erst an den untersten Kaskaden meinen
Verlust bemerkt. Sie wieder zu erhalten, da
zu hatte ich wegen der vielen Fremden, die
beständig das Gebäude bestiegen, wenig Hoff
nung, und wenn ich zu der fürchterlichen Höhe
hinaufsaht die ich in der drückenden Sonnen
hitze erklimmen sollte, dann schwand mir bei
nahe aller Mut. Indessen wurde es gewagt.
Um die Wasserkünste nicht zu versäumen —
denn von ferne hörte ich schon die Wasserorgel
Polyphems und die Hörner des in seiner
Nähe befindlichen Fauns und Zentauren und
sah schon hoch auf den obersten Kaskaden eine
Fontäne springen — mußte ich mich sehr
eilen, welches mich bis zum Hinsinken erhitzte
und ermattete. Einsam stand ich nun wieder
auf der großen Galerie an der Pyramide, und
fand meine Pfeife an ihrem alten Platz. Ich
hatte dabei den Vorteil, die herrliche Gegend
noch einmal überschauen und die oberen Was
serkünste, besonders die kleinen Vexierfon
tänen, in der Nähe sehen zu können. Letztere
spritzten, wenn die Zuschauer sichs am wenig
sten versahen, plötzlich in die Menge unter
ihren Füßen heraus und jagten manchem
großen Schrecken ein. Nun ergoß sich das
Wasser aus den obern Bassins allmählich auf
die Kaskaden. Ich ging immer dicht nebenher
auf den Treppen, blieb an jedem Bassin so
lange stehen, bis es sich gefüllt hatte und dann
auf die untern Kaskaden überströmte. Endlich
stürzte sich dann der ganze Wasservorrat mit
großem Rauschen über die Grotte Neptuns
ohngefähr zwei Stockwerke hoch in das un
terste große Bassin, und wir hatten nun den
schönen Anblick, die ganze Höhe hinauf bis
beinahe an den Fuß des Oktogons einen brei
ten Wasserspiegel am andern zu sehen, zwi
schen denen hier und da eine Fontäne sprang.
Nachdem ich mich lange an diesem Anblick ge
weidet hatte, ging ich an dem innern Rand
des Bassins herum in die gewölbte Grotte,
wo itzt das Wasser mit Ungestüm dicht vor
mir über mein Haupt herabstürzte und, ohne
*) Hessische Volksbücher. Hevausg. von Wilhelm
Dreht. Nr. 61—65. Ludwig Linden meyer. Jahr
buch meines Lebens. Nach der Handschrift herausg.
von Karl Gstelborn. Darmstadt 1927. Selbstverlag
des Herausgebers. (Für den Buchhandel: Vertag H.
L. Schlapp, Darmstaidt.) XI. und 416 Seiten. Preis
gebunden 4,50 M.; für Abonnenten bor Volksbücher
2 M., gelb. 3 M.