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er selbst in der Einleitung zu den „Kinder- und
Hausmärchen der Brüder Grimm, dem volks
tümlichsten Buch, das die Deutschen neben der
Lutherschen Bibelübersetzung besitzen:
„Ich selbst habe nur die wenigen Jahre in
Hessen gelebt, als wir Göttingen verlassen
mußten und nach Kassel zurückkehrten, bis
dann die Berufung nach Berlin kam —, nie
aber ist das Gefühl in mir schwächer gewor
den, daß ich in Hessen zu Hause sei, und nir
gends erscheinen mir Berg und Tal und die
Herman Grimm.
Aussicht ins Weite so schön. Ich meine, eine
andere Lust dort zu atmen. Meine Mutter
sprach immer im hessischen Dialekt. Dieser hes
sische Wortklang hat für mich etwas Entzücken
des. Aus dem Märchen scheint er mir her
auszuklingen, auf allem, was Jacob und Wil
helm schrieben, liegt er für mein Gefühl. Im
mer blieb die Fulda für uns ein Fluß von
Bedeutung, und Karl Altmüllers schönes Ge
dicht darauf rührte meine Mutter zu Tränen."
In den Jahren 1846—49 studierte Herman
Grimm in Berlin und Bonn die Rechtswissen
schaften. Dann aber schreibt er dem Vater,
daß es ihm nicht gegeben sei, auf ein äußeres
Kiel hinzuarbeiten; nur das, wozu ihn Lull und
Neigung trieb, würde vielleicht unter seinen
Händen gedeihen. Und so blieb er bis in sein
44. Lebensjahr ohne Beruf und galt in der
Berliner Gesellschaft als „der Sohn der Brü
der Grimm", derDramen, Novellen und Essays
schrieb. Aber immer mehr gilt seine Neigung
dem Studium der Kunstgeschichte. 1857 ist er
zum erstenmal in Rom, das ihm eine neue Welt
eröffnet. Mit dem „Leben Michel Angelos"
(1860), das noch zu seinen Lebzeiten zehn Auf
lagen erlebte, begann seine kunsthistorische
Laufbahn. Dies Buch, das so ganz ohne Vor
gänger war, war die schönste Frucht seines
ersten Aufenthaltes in Italien und machte einen
gewaltigen Eindruck. So reich auch heute die
Literatur über die Renaissancezeit sein mag,
als lebensvolles Gesamtbild der Renaissance in
Florenz und Rom ist Grimms prächtiges Werk
noch nicht überholt. 1872 wurde er Privat
dozent für neuere Kunstgeschichte an der Ber
liner Universität, drei Jahre später Professor
und 1884 Geheimer Regierungsrat. Am 16.
Juni 1901 ist er, 73jährig, schmerzlos aus dem
Leben geschieden, eine fünfzigjährige, schrift
stellerische Arbeit und eine dreißigjährige aka
demische Lehrtätigkeit abschließend. Als Gegen
stück zu Michelangelo war 1872 sein „Leben
Raphaels" erschienen, ein Werk, dem er in im
mer neuen Bearbeitungen zu Leibe ging und
dem noch die Arbeit des letzten Lebensjahres
galt. Auch hier ist ihm — im Gegensatz etwa
zu Burckhardt — die Persönlichkeit das Wich
tige, seine Kunstbetrachtung geht aus den poe
tischen Inhalt, er weiß den Kern vom Neben
sächlichen zu scheiden. So ist es auch mit den
Vorlesungen des Kunsthistorikers Grimm über
„Goethe", die seinerzeit ein Ereignis waren.
Er, der noch mit Goethes Enkeln, mit Bettina,
Marianne von Willemer und Alexander von
Humboldt verkehrt hatte, stand schon dadurch
in näherem Verhältnis zu Goethe. Diese Vor
lesungen erschienen später in Buchform. Es ist
keine eigentliche Biographie, wie denn Grimm
auch hier jeden philologischen Kleinkram ver
schmäht. Eben darum wird das Buch nie ver
alten. Ihm liegt daran, den ungeheuren Or
ganismus von Goethes Existenz zu ersassen,
Goethe in den Dienst unserer Zeit zu stellen.
So ist es wohl das schönste persönliche Bekennt
nis über unseren größten deutschen Dichter.
Auch in seinem „Homer" (1890) sieht er völlig
ab von den Untersuchungen eines Wolf, Lach
mann und Schliemann. Homer ist ihm der
Dichter der Ilias und Odyssee, auch in ihm
sieht er eine Kulturstufe der Menschheits
entwicklung. Daneben war Grimm ein Mei
ster des deutschen Essays. Diese Essays, zu