Full text: Hessenland (40.1928)

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er selbst in der Einleitung zu den „Kinder- und 
Hausmärchen der Brüder Grimm, dem volks 
tümlichsten Buch, das die Deutschen neben der 
Lutherschen Bibelübersetzung besitzen: 
„Ich selbst habe nur die wenigen Jahre in 
Hessen gelebt, als wir Göttingen verlassen 
mußten und nach Kassel zurückkehrten, bis 
dann die Berufung nach Berlin kam —, nie 
aber ist das Gefühl in mir schwächer gewor 
den, daß ich in Hessen zu Hause sei, und nir 
gends erscheinen mir Berg und Tal und die 
Herman Grimm. 
Aussicht ins Weite so schön. Ich meine, eine 
andere Lust dort zu atmen. Meine Mutter 
sprach immer im hessischen Dialekt. Dieser hes 
sische Wortklang hat für mich etwas Entzücken 
des. Aus dem Märchen scheint er mir her 
auszuklingen, auf allem, was Jacob und Wil 
helm schrieben, liegt er für mein Gefühl. Im 
mer blieb die Fulda für uns ein Fluß von 
Bedeutung, und Karl Altmüllers schönes Ge 
dicht darauf rührte meine Mutter zu Tränen." 
In den Jahren 1846—49 studierte Herman 
Grimm in Berlin und Bonn die Rechtswissen 
schaften. Dann aber schreibt er dem Vater, 
daß es ihm nicht gegeben sei, auf ein äußeres 
Kiel hinzuarbeiten; nur das, wozu ihn Lull und 
Neigung trieb, würde vielleicht unter seinen 
Händen gedeihen. Und so blieb er bis in sein 
44. Lebensjahr ohne Beruf und galt in der 
Berliner Gesellschaft als „der Sohn der Brü 
der Grimm", derDramen, Novellen und Essays 
schrieb. Aber immer mehr gilt seine Neigung 
dem Studium der Kunstgeschichte. 1857 ist er 
zum erstenmal in Rom, das ihm eine neue Welt 
eröffnet. Mit dem „Leben Michel Angelos" 
(1860), das noch zu seinen Lebzeiten zehn Auf 
lagen erlebte, begann seine kunsthistorische 
Laufbahn. Dies Buch, das so ganz ohne Vor 
gänger war, war die schönste Frucht seines 
ersten Aufenthaltes in Italien und machte einen 
gewaltigen Eindruck. So reich auch heute die 
Literatur über die Renaissancezeit sein mag, 
als lebensvolles Gesamtbild der Renaissance in 
Florenz und Rom ist Grimms prächtiges Werk 
noch nicht überholt. 1872 wurde er Privat 
dozent für neuere Kunstgeschichte an der Ber 
liner Universität, drei Jahre später Professor 
und 1884 Geheimer Regierungsrat. Am 16. 
Juni 1901 ist er, 73jährig, schmerzlos aus dem 
Leben geschieden, eine fünfzigjährige, schrift 
stellerische Arbeit und eine dreißigjährige aka 
demische Lehrtätigkeit abschließend. Als Gegen 
stück zu Michelangelo war 1872 sein „Leben 
Raphaels" erschienen, ein Werk, dem er in im 
mer neuen Bearbeitungen zu Leibe ging und 
dem noch die Arbeit des letzten Lebensjahres 
galt. Auch hier ist ihm — im Gegensatz etwa 
zu Burckhardt — die Persönlichkeit das Wich 
tige, seine Kunstbetrachtung geht aus den poe 
tischen Inhalt, er weiß den Kern vom Neben 
sächlichen zu scheiden. So ist es auch mit den 
Vorlesungen des Kunsthistorikers Grimm über 
„Goethe", die seinerzeit ein Ereignis waren. 
Er, der noch mit Goethes Enkeln, mit Bettina, 
Marianne von Willemer und Alexander von 
Humboldt verkehrt hatte, stand schon dadurch 
in näherem Verhältnis zu Goethe. Diese Vor 
lesungen erschienen später in Buchform. Es ist 
keine eigentliche Biographie, wie denn Grimm 
auch hier jeden philologischen Kleinkram ver 
schmäht. Eben darum wird das Buch nie ver 
alten. Ihm liegt daran, den ungeheuren Or 
ganismus von Goethes Existenz zu ersassen, 
Goethe in den Dienst unserer Zeit zu stellen. 
So ist es wohl das schönste persönliche Bekennt 
nis über unseren größten deutschen Dichter. 
Auch in seinem „Homer" (1890) sieht er völlig 
ab von den Untersuchungen eines Wolf, Lach 
mann und Schliemann. Homer ist ihm der 
Dichter der Ilias und Odyssee, auch in ihm 
sieht er eine Kulturstufe der Menschheits 
entwicklung. Daneben war Grimm ein Mei 
ster des deutschen Essays. Diese Essays, zu
	        
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