Herman Grimm.
Qu seinem 100. Geburtstag (6. Januar 1928).
Nur wenige Kasselaner, die heute an dem
Eckhaus Georgenstraße und Bellevue (Nr. 7)
vorüberkommen, wissen, daß dieses einst dem
Schüler und Nachfolger des älteren Tischbein,
dem Maler Wilhelm Böttner (1752—1805)
und später dessen Schwiegersohn, dem Maler
und Radierer Ludwig Emil Grimm, gehörte,
dem jüngsten Bruder von Jacob und Wilhelm
Grimm, die selbst zweimal in diesem Hause
gewohnt haben, 1826—29, im zweiten Stock,
1838—41 im Erdgeschoß, und zwar Jacob in
den beiden Zimmern rechts vom Hausflur und
Wilhelm in der nach der Georgenstraße liegen
den Zimmerreihe.
Im Haus Nr. 9 hatte sich Wilhelm Grimm
1824 mit Dortchen Wild, der Tochter des Apo
thekers Rudolf Wild in der Marktgasse, ver
heiratet, und im zweiten Stock des Böttner-
schen Eckhauses wurde am 6. Januar 1828 Her-
man Grimm geboren. Wenige Wochen vorher
war seine spätere Frau Gisela geboren worden,
die Tochter des mit den Grimms befreundeten
Achim von Arnim, des Herausgebers von
„Des Knaben Wunderhorn", und Bettina
Brentanos, die in Goethes Leben eine so große
Rolle gespielt hatte. Als Wilhelm Grimm
den Berliner Freund zu Giselas Geburt be
glückwünschte, konnte er ihm auch die Geburt
des eigenen Sohnes mitteilen. Das zarte Kind
machte den Eltern anfangs große Sorge. Die
kränkende Behandlung, die die Brüder durch
den über ihre Bedeutung völlig unorientier-
ten Kurfürsten Wilhelm II. erfuhren, veran
laßte sie bekanntlich 1829 zur Uebersiedlung
an die Universität Göttingen. Wilhelm schreibt
über die Abreise an Arnim: „Zwei Tage vor
der Abreise, die nicht länger durfte aufgehoben
werden, wurde meine Frau krank. Es war
schon alles fortgeschickt, Meubles, Bettwerk,
Kleider, es mußte also das nothwendigste wie
der zusammengeborgt werden und die vollen,
häuslichen Stuben verwandelten sich in leere
Gastzimmer, in welchen unsere Tritte hallten.
Den Weihnachtsabend wurde auf einem gepack
ten Koffer, vor dem Bette meiner Frau, dem
Kind (Herman) ein kleines, armseliges Weih
nachtsbäumchen angezündet; es sprang voll
Freude herum und war seit ein paar Monaten
völlig gesund, stark und kräftig geworden. Ich
bilde mir wie tausend Väter ein, es verrathe
schon schöne Gaben; gewiß ist aber, daß es alle
lieb haben, die es sahen. Den dritten Festtag
Morgens früh reisten wir beide ab, die Sonne
. Von Paul Heidelbach.
ging eben auf, und als wir an dem Museum
vorüberfuhren, berührte ihr roter Schein ein
paar Reihen wohlbekannter Bücher; ich nahm
zum letztenmal von den alten Freunden, die
fünfzehn Jahre lang mein täalicher Umgang
waren, Abschied und gab mich am Thor als kö
niglich hannöverscher Bibliothekar aus." Die
kranke Frau hatte er zurücklassen müssen, und
als diese endlich im Januar mit dem Kind nach
folgen wollte, erkrankte dieses heftig, so daß er
sofort nach Kassel zurückeilte. „Als ich früh
Morgens anlangte, fand ich das arme Kind,
das ich frisch und roth verlassen hatte, bleich
und abgezehrt; es streckte seine mageren Händ
chen nach mir aus und rief mich zu sich ans
Bett; ich weiß keinen Tag meines Lebens, wo
ich mich so wenig zu fassen wußte, ich konnte es
ohne Thränen nicht ansehen. Es war dem
Tode nahe gewesen, ein todtenähnlicher neun-
stündiger Schlaf hatte endlich zum Heil Ent
scheidung gebracht." Nach einigen Tagen be
nutzte man das eingetretene Tauwetter, um in
einem mit Wärmflaschen geheizten Glaswagen
die Reise nach Göttingen anzutreten. Als dann
1837 die „Göttinger Sieben", unter ihnen die
Brüder Grimm, ihres Amtes entsetzt wurden,
weil sie gegen den Statsstreich des Königs von
Hannover protestiert hatten, fanden die Brü
der wieder im Kasseler Haus des jüngsten Bru
ders Aufnahme, bis 1841 ihre Berufung nach
Berlin erfolgte.
In Kassel also hat Herman Grimm seine
früheste Jugend verlebt; die stille Studierstube
von Vater und Onkel — der eine war der
eigentliche Wiederentdecker der deutschen Volks
poesie. der andere der Gründer der deutschen
Sprachforschung — gab ihm die ersten Ein
drücke; hier half er Märchen abschreiben und
für das großangelegte deutsche Wörterbuch, an
dem heute, nach neunzig Jahren, noch gearbei
tet wird, Auszüge machen. Sein Freund, der
Archäologe Ernst Curtius, hat einmal darauf
hingewiesen, wie Herman Grimms Schaffen
an das am Elternherd unbewußt Empfangene
anknüpft, wo er besser als irgend einer seiner
Altersgenossen den Nachklang jener großen
Zeit erleben konnte, in der mit der Erhebung
unseres Volkes auch der Sinn für die Ueber
lieferungen der Vorzeit und die Quellen ihrer
Geschichte erwachte. Dreizehnjährig wurde
Grimm Gymnasiast in Berlin, das fortab die
Stätte seines Wirkens werden sollte. Aber
Kassel blieb ihm immer die Heimat. So schreibt