88
wollte. Er war oft unruhig, redete viel mit sich
selbst, Pfiff die Menschen böse an und spielte gern
Verstecken. Aber er lies nicht fort und fraß mit
Appetit. Die zunehmende Unfreundlichkeit seines
Verhaltens siel bei dem von ihm gewohnten Be
nehmen nicht besonders aus. Erst viel später wurde
daran herumgedeutelt, als nur mehr das Rätsel
seines Endes zur Diskussion staub. Einstweilen
dachte niemand an die Möglichkeit seines Todes.
Denn Johannes hatte sich ein unbestrittenes Le-
bensrecht im Effektivbestand der deutschen Armee
erworben.
Dieses Recht schloß allerdings die Pflicht zur
Wanderschaft in sich, und wie verdrießlich es auch
war, Johannes mußte sich aufs neue einem Orts
wechsel unterwerfen. Und da war nicht alles gleich
so in Ordnung, wie er es wohl gewünscht hatte.
Bis die Quartierverhältnisse geregelt waren, ver
gingen einige Tage. Das gefiel aber Johannes
gar nicht. Er trieb Opposition; ärgerte die Men
schen, indem er in einen Wüschesack sich verkroch
und brummig und verstockt an einem Hemd herum-
kaure, bis es in Fetzen zerfiel. Durch solche Machen
schaften zwang er zu Gegenmaßregelu. Um ihm
aber nicht allzunahe zu treten, wurde er in einem
leeren Papierkorb einquartiert, der ihm zwar die
Gelegenheit zu bösartigen Ausflügen unterband,
zugleich aber doch Lust und Licht genug ließ, nur
sein Leben nicht aller Reize zu entblößen. Diese
Haft sollte ja auch nur so lange dauern, bis ihm
eine würdigere Behausung geschaffen werden konnte.
Johannes aber bewährte sich nun als ein Fana
tiker von heroischer Konsequenz. Er ging in seiner
Empörung über die Welt, er ging in seiner Oppo
sition gegen die Menschheit bis zur Selbstvernich-
Aus der Dichtung „Jesus"
Im Schatten Zions lag ein tiefes Tal,
Mit Felsen angefüllt und Finsternissen,
Gleich einer Ackerfurche lang und schmal
Im dürren Leib der Erde aufgerissen;
Tie Schlucht des Greuels war das Tal genannt,
Seit Judas Sippe dort in schlimmen Tagen
Ihr eigen Fleisch und Blut dem Baal verbrannt
Und Jahves Opfer aus dem Sinn geschlagen:
Tort war es auch, wo des Chaldäers Macht
Tie Söhne Zions traf mit grimmen Streichen,
Wo er im Sturme einer Schreckensnacht
Tie Tiefen ausgefüllt mit ihren Leichen . . .
Im kalten Grau des Morgens lag das Tal,
Als aus dem Tore zwei Gesellen schritten, -
Wo sich ein Häuflein Pappeln, struppig kahl,
Um ihren Platz am Felsenhange stritten;
Ta stieß der eine sacht den andern an:
„Im Greueltale muß das Blut gerinnen!
Schau, dort um Aste hängt ein toter Mann!" —
Und kräftig schreitend eckten sie von hinnen!
Schon hatte sich umblitzt vom Morgentau
Der Tempel Zions aus der Nacht gerettet,
Indes der Römerfestung Quaderbau
Noch immer lag im Dunkel eingebettet;
tuug. Er legte sich hin und starb. Er war auf
einmal tot. Lag eines Morgens auf dem Boden
des Papierkorbs ttnd regte sich nicht mehr.
Natürlich wurden Versuche zur Wiederbelebung
gemacht. Sie blieben ohne Erfolg. Sogar das un
fehlbare Mittel des Fuchses, den zusammengerolltett
Igel buchstäblich aus der Fasson zu bringen, ver
sagte. Johannes wollte nicht mehr leben. Es paßte
ihnr einfach nicht mehr, imnier wieder wo attders
hin gebracht zu werden ohite Rücksicht daraus, ob
ihm das behagen würde oder nicht. Er war es
leid. Er hatte genug. Und so machte er Schluß.
Die Aussicht auf eine weitere Fortsetzung diesev
Lebensweise schien ihm scheußlicher als der Tod.
Und so lag er da im Garten der Ferme, zwischen
Obstbüschen, glanzlosen Auges, die dünnen Beine
kraftlos hingestreckt, die Stacheln friedlich angelegt
wie nie im Leben, und hatte es hinter sich. Er
wurde begraben. Ein paar Spatenstiche genügten
zwar, den kärglichen Rest seines Vorhandenseins
auszulöschen. Aber so ganz umsonst hatte er doch
nicht gelebt, der Unsanfte mit dem sanften Namen.
Oft noch wurde seiner gedacht im Kreise derer, die
mit ihm gelebt und ihn überlebt hatten. War er
nicht ein seltsamer Kauz gewesen, der Johannes,
ein Kerl mit eigenem, undurchschaubarem Wollen?
Nur wer ein Geheimnis in sich trägt, ist wesenhaft.
In den Augen eines Menschen schimmert es auf,
wenn er Mensch im tiefsten Sinne ist, wie in den
Augen eines Tieres, wenn es Tier im tiefsten
Sinne ist. Nicht alle Menschen sind Menschen,
nicht alle Tiere sind Tiere. Johannes war ein Tier
ohne Furcht und Tadel. Er soll nicht vergessen
werden.
Von Fritz Gölner.
Bor seiner Pforte stand ein Legionär,
Schier unbeweglich, wie ans Erz gegossen —
Ta hob den Kopf er plötzlich — eine Schar
Im Grau der Gasse kam dahergcflossen;
Ein Haufe Pharisäer zog voran;
Dahinter ein Gemisch aus allem Volke;
Inmitten aber schritt ein bleicher Mann —
Das Ganze schwer wie eine Wetterwolke!
Am Römerhause staute sich die Flut:
Unreines witterte die Judennase!
Doch drang auch so zum Landvogt ihre Wut;
Schon trat er aus den Söller au der Straße;
„Was soll's, ihr Juden?", rief er messerscharf
Und ohne seinen Unmut zu verhehlen;
Noch sprach er, als ihm schon entgegenwarf
Die Menge ihren Wunsch aus hundert Kehlen.
Tann aber trat ein Priester aus der Schar
Und huldigte dem Vogt mit tiefem Neigen:
„Verzeih, Pilatus, wenn zu heftig war
Ter Eifer, den wir strebten, dir zu zeigen:
Ten Menschen dort — die ringgeschmückte Hand
Nach Jesus ließ er rasch hinüberschnellen —
Des Nachts am Ölberg unsre Wache band,
Ihn stracks vor deinen Richterstuhl zu stellen;
Seit Jahren schon mit seiner Jüngerbrut