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Der Schneiderkarl als Landsturmmann. Von G. 3$er.
Als an jenem unvergeßlichen Angnsttage 1914
der Ortsdiener des Hinterländer Dorfes O. mit
der Schelle durch die Gassen eilte und verkündete:
„Mobilmachung befohlen!" saß der Schneiderkarl
mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Werk
tisch, horchte ein Weile durchs halbgeöffnete Fenster
hin und fuhr in seiner Beschäftigung ruhig fort.
Eben befestigte er den letzten Knopf an die nagel
neue Kirmeshose seines Nachbarsohnes Jörg. Wer
ihm dabei hätte zuschauen dürfen, der konnte einen
Begriff davon bekommen, was gründliche Hand-
werksarbeit heißt. Sodann erhob er sich und hielt
das nunmehr vollendete Kleidungsstück mit ausge
streckten Armen vor sich hin, um es einer letzten
Musterung zu unterziehen. Das war eine Hose,
wie sie im Buche steht. Tie Paßte wie angegossen —
darauf konnte der Meister mit gutem Gewissen einen
Eid schwören. Nicht zu lang, daß sie sich in Har-
monikafalten aus die Stiefel legte, noch zu kurz,
wie man sie jetzt bei den geputzten Herrchen sieht
und glauben muß, ihr Träger habe, als er am
Morgen mit beiden Beinen hineinfuhr, zu spät
gebremst. Überhaupt kümmerte sich der Schneider-
karl blitzwenig um die jeweilige Mode und noch
weniger um das, was die Leute sagten. Er lebte
am liebsten für sich und war, ohne menschenscheu
zu sein, kein Freund vom vielen Reden.
Mittlerweile bildeten sich draußen aufgeregte
Gruppen. Während viele der dienstpflichtigen Män
ner und Burschen voll vaterländischer Begeiste
rung einen günstigen Ausgang des Krieges voraus
sagten, hatte blasser Schrecken den Gesichtern einiger
seinen sichtbaren Stempel ausgedrückt. Wieder
andere standen in Gedanken versunken und über
legten, ob das Vaterland nicht auch Männer brauche,
die als unabkömmlich im Lande bleiben müßten,
damit zu Hause nicht alles drunter und drüber ginge.
Etliche fanden Magen, Lunge, Herz und Leber
nicht ganz in Ordnung und ein kreisärztliches Attest
in Anbetracht der ungesunden Zeitverhältnisse als
durchaus wünschenswert.
„Karl, nun hör' doch endlich auf mit dem, hummen
Gestichel!" Mit diesen Worten kamen jetzt einige
Männer zur Stube hereingepoltert, die gleich dem
Schneiderkarl dem „gedienten" Landsturm ange
hörten und sich in wenigen Tagen stellen mußten.
„Mach Schluß!" riefen sie, „das hat doch alles
jetzt keinen Wert mehr!"
„Wert hin, Wert her," brummte Karl, „was ich
noch fertig machen kann, wird gemacht, und damit
basta!" —
Eine Woche später hatte er die Elle mit dem
Gewehr vertauscht und mußte samt seinen Kame
raden, obgleich sie doch seiner Zeit als wohlaus--
gebildete Kriegsleute entlassen worden waren, wie
der von vorne ansangen wie ein junger Rekrut.
Einzelmarsch, Wendungen, Griffe, Grüße üben und
was dergleichen nützliche Beschäftigungen noch mehr
sind aus dem Kasernenhofe.
Seltsam genug sahen die Landstürmer aus. Fast
alle trugen noch, den Bürgerrock, in dem sie von
daheim weggegangen waren, und darüber hatten
sie das Koppel mit dem Seitengewehr geschnallt.
Als einziges Uniformstück saß auf ihren teilweise
schon stark angegrauten Köpfen die Feldmütze, auch
„Krätzchen" genannt, die auch dem aufgewecktesten
Gesicht den Ausdruck blöder Stumpfheit zu ver
leihen geeignet war. Nur der Herr Hauptmann
war vollständig eingekleidet und thronte aus einem
Schimmel, der sich während seiner langjährigen
Dienste auf einem hessischen Bauernguts diese hohe
Ehre niemals hatte träumen lassen. Ein schneidiger
Herr, der Hauptmann! Offenbar hatte er sich's
zum Ziel gesetzt, die Kerls, von denen nicht wenige
bereits Großvaterfrenden erlebt hatten, ordentlich
auf den Schwung zu bringen. Wenn sein Mund
zuweilen von weniger lieblichen Reden überfloß,
daß manchem die Röte des Unwillens in die bär
tigen Wangen schoß, hatte der Schneiderkarl nur ein
kaum merkliches Lächeln übrig. Er dachte sich sein
Teil, und über den Liebesdienst, den er in der
Stille seines Herzens von dem Hauptmann begehrte,
wollen wir schweigen.
Schon langten die ersten gefangenen Franzosen
in: Bahnhof an. Karl hatte gerade dort Wachdienst
und mußte aufpassen, daß sich Müßiggänger und
törichte Jungfrauen nicht herzudrängten und die
Parlewus den Zug nicht eigenmächtig verließen.
Gelassen schritt er den Bahnsteig auf und ab, als
sein Blick auf zwei Franzosen fiel, die sich in ihren
blauen Mänteln und knallroten Hchen an die Wa
gentür gestellt hatten.
„Mußt doch einmal sehen," sagte er zu sich,
„was die für Zeugs anhaben." Hinzutretend prüfte
er mit Kennermiene das Gewebe nebst dessen Zu
sammensetzung und Verarbeitung. „Nicht schlecht",
murmelte er vor sich hin und ging nunmehr dazu
über, die Knöpfe auf ihre Befestigung hin zu unter
suchen.
Sei es, daß die Franzmänner der Meinung
waren, als Kriegsgefangene jeglicher militärischen
Besichtigung überhoben zu sein und sich durch das
Gebaren des Feindes in ihrer Ehre verletzt fühl
ten, oder war es die Angst vor dem ausgepflanzten
Seitengewehr des Landstürmers — genug, sie ga
ben ihre Unzufriedenheit auf eine Art kund, die
auch dem Sprachunkundigen ohne weiteres ein
leuchten mußte.
Ter Schneiderkarl in dem Bewußtsein, nichts
Arges im Schilde geführt zu haben, trat entrüstet
zurück, schob das Priemchen mit der Zunge von der
linken auf die rechte Seite, maß die zweie mit einem
verächtlichen Blick, spuckte kräftig ans und sagte
weiter nichts als: „Ihr Blässe!" Nun muß man
wissen: der „Bläß" ist in Karls Heimatdorf wie
in der ganzen Gegend ein beliebtes Schimpfwort