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Rede gehalten, die Sektpfropfen geknallt, die Gläser
geklungen und die Gaste glückwünschend dem Paare
die Hände geschüttelt hatten, fühlte sich Rahel plötz
lich, ganz plötzlich, von einer großen, einer unsag
baren Traurigkeit überkommen — woher — wes
halb — ? Sie wußte es nicht. Doch wie ein körper
lächer Schmerz durchzuckte sie blitzgleich die Er
kenntnis: Nie, niemals wirst du ihm angehören!
Tränen füllten ihre schönen dunklen Augen, sie
sank auf ihren bekränzten Stuhl, und während
sie sich nach dem .Herzen griff, faßte sie mit der
andern Hand Salomos Rechte. Ter sah sie be
troffen au. „Du weinst?!" — „Nu, vor Freide
weint se, vor Glück" sagte Mutter Hammerschlag,
die neben Frau Lö>venstein dem Brautpaar gegen
über saß.
* * *
Der Zeitpunkt, auf den man Rahels und Sa
lomos Vermählung angesetzt hatte, ivar längst ver
strichen. Im Rosenmonat hatte sie stattfinden sollen
— nun blühten die Herbstzeitlosen. Niemand im
Hause Löwenstein sprach noch von .Hochzeit, oder
dachte daran, die Braut selbst am wenigsten. Rahel
war krank, von dein Abend des Kasmal an krank.
Die zarte Röte ihrer Wangen war tiefer Blässe
gewichen, um ihre schönen Augen lagen dunkle
Ringe. An warmen Tagen war sie noch in den
Garten hinaus gegangen. Jetzt, da der Herbst
nahte, saß sie meistens im Lehnstuhl am Fenster.
Heute hatte Joel, der Rahel sehr lieb hatte,
ihr einen Strauß der Herbstzeitlosen gebracht, die
die große Rasenfläche, in die der Löwensteiusche
Garten auslies, mit ihrem zarten Lila überzogen.
Rahel nahm die Blüten aus des Bruders Hand —
eine große Träne rann über ihre blasse Wange.
Sie mußte daran denken, wie sie Hand in Hand
mit Salomo ain Kasmaltage in den Garten ge
gangen war, Schneeglöckchen zu pflücken, mit denen
damals die Grasfläche wie überschüttet war, wie
heute mit Herbstzeitlosen. Damals Frühling, heute
Herbst — welch ein Wandel in der kurzen Zeit,
nicht nur draußen in der Natur! Joel zog den
Kopf der Schwester an seine Brust, streichelte ihr
Haar. Da brach Rahel in einen Strom von Trä
nen aus.
Täglich kam Salomo, um nach der Braut zu
sehen, oft auch mehrmals am Tage. Häufig brachte
er ihr Blumen und Süßigkeiten. Aber Süßigkeiten
liebte sie nun nicht mehr, und die Blumen wurden
jetzt, da es auf den Herbst ging, teurer. Er sprach
viel, vom Geschäft, daß es gut gehe und daß er
feine Kundschaft habe. Von den Tagesneuigkeiten,
den kleinern und größern Geschehnissen, die sich
im Städtchen zutrugen. Ach, das Geschäft! Sie
freute sich für ihn, aber was galt ihr das Geschäft
angesichts dessen, was ihre Seele jetzt erfüllte?
Und die Leute mit ihren Sorgen, ihren Freuden —
wie weit hatte sie, Rahel, die alle hinter sich ge
lassen auf dem Wege, den sie nun wandelte, wan-
delu mußte.
Es mußte Salomo auffallen, daß Rahel immer
nur mit halber Seele bei dem ivar, was er sagte.
Darum ivohl wurde er schweigsamer. Seine Blicke
gingen an ihr vorbei iinb hafteten an den: Kirch
turm drüben am Ende der Straße, oder er sah ge
dankenlos nach einem der Bilder an der Wand,
nach dem Blumentisch, den Rahel nun nicht mehr
betreute. Wenn sie ihn dann ansprach, war es
ihr, als kämen seine Gedanken von weit her zu ihr
zurück. Er hatte daun wohl an seine Geschäfte, an
einen Auftrag, einen Wechsel gedacht. Ach, er
war gesund, er gehörte ganz der Gegenwart, dem
Diesseits an. Sie, ihre Seele, eilte dem verfallenden
Körper voraus, einer andern Welt entgegen. Was
band ihn noch an sie, die von ihm sortgezwungeu
wurde durch eine höhere Macht?
Zu Anfang ihrer Erkrankung hatte Rahel auf
Gesundung gehofft. Jehova würde nicht so grausam
sein, sie aus ihrem jauchzenden Glück heraus in
den Abgrund, in die ewige Nacht zu stoßen! Auch
war sie sich keiner Schuld bewußt, die Jehova etwa
rächen wollte. Und doch — zeigte nicht das Leben,
bewies nicht die Geschichte ihres Volkes, daß auch
Unschuldige von Jehovas Zorn getroffen, zerschmet
tert wurden? Waren nicht die Knaben des Levi
drüben vor nicht langer Zeit qualvoll zu Tode
gekommen? Und Jephtas Tochter? War sie nicht,
völlig rein von jeder Schuld, furchtbarem Geschick
zum Opfer gefallen? Oder war an diesen Unglück
lichen Schuld der Väter gerächt worden, von der
es heißt, daß sie heimgesucht werden solle an den
Kindern bis ins dritte und vierte Glied? Sollten
auch an ihr, Rahel, vielleicht längstvergessene Sün
den geahndet werden?
In bangen Nächten beschäftigten quälende Vor
stellungen von Jehovas Zorn und seinen Strafen
Rahels erregte Phantasie und verscheuchten ihr
den Schlaf. Und ihre Hoffnung auf Genesung
schwand dahin — Jephtas Tochter! Warum dachte
sie so viel an diese? Deren Geschick war ein
grausigeres, ja. Oder doch nicht? Es erfüllte sich
schnell. Sie, Rahel, sah, fühlte Wurzel um Wurzel
ihres Seins sich langsam lösen.
Joel, in seiner zarten, verstehenden Liebe, war
der einzige, der un: der Schwester Seelenkämpsje
wußte. Moritz in seiner leichten, heitern Art stand
ihr innerlich ferner als der tiefer veranlagte
Joel, sie weihte ihn nicht ein in das, was sie
mit Furcht und Zittern erfüllte. Frau Löwensteins
geschäftige Fürsorge galt mehr der Tochter kör
perlichem Wohl und Wehe, sie hatte kein Ver
ständnis für deren Seelenleben. —
Zu Beginn von Rahels Krankheit ivar viel Be
such gekommen. Nun ließ Joel alle abweisen, nur
ein Paar Freundinnen und Salomos Mutter durften
sie sehen. Ihr Zustand verschlimmerte sich. Öfter
und öfter griff sie sich in jäher Angst nach dem
kranken Herzen, wie am Abend ihres Kasmal. Ihr
Atem wurde kürzer, schwerer, weitere Anzeichen
eines nicht zu behebenden Leidens traten ans. Joel
ließ immer andere berühmte Ärzte kommen, be-