Full text: Hessenland (39.1927)

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sie weis; sich geliebt über viele, sie wirft sich bis 
weilen vor/ baß sie sich nicht genügend zu seiner 
Seelenhoheit emporschwingen kann" 4 . 
Mer auch seiner späteren zweiten Frau, Fräu 
lein M. Hamminck Schepel, der Mimi der Briefe, 
die von 1865 an fast ununterbrochen sein Leben 
geteilt, ihm schwere Zeiten erträglich gemacht, ihn 
vor mancher Unbesonnenheit bewahrt hat und, viel 
leidenschaftlicher als Tine, seiner sinnlichen Natur 
mehr entgegenkommt, ist er nicht immer treu geblie 
ben. 'Ein großer Teil der zur „niederen Minne" 
gehörigen Beziehungen haben nur für die chronique 
86nnänl6U86 Interesse, nicht für die ernste Literatur 
geschichte. Wer mehr darüber erfahren will, lese 
die beiden Bücher von Marie Anderson: „Multa- 
tuli-Wespen door Veritas, Amsterdam o. I." (Tez. 
1888 oder Jan. 1889) und das ausführlichere, 
teilweise eine Wiederholung des vorhergehenden, 
„Uit Multatulis Leven, bijdrage tot de kennis van 
zijn karakter, door Marie Anderson, Amsterdam 
o. I." (Aus Multatulis Leben, Beitrag zur Kennt 
nis seines Charakters, von Marie Anderson), in 
denen sie aus zynische Weise auch ihre eigenen 
Liebesbeziehungen zu Dekker schildert. Auch das 
Werk von I. B. Meerkerk, „Multatuli. 2. Aus 
lage", Groningen 1912, streift hart an die chronique 
scandaleuse. Mit philiströser tugendsamer Entrü 
stung ohne irgendwelche psychologische Vertiefung, 
als ob Dekker durch die Verstöße gegen die bürger 
liche Moral den Verfasser persönlich beleidigt hätte, 
zetert er gegen Dekkers extramatrimoniale Streif 
züge. 
Bisher werden in der ernsten Literaturgeschichte 
drei Frauen erwähnt, die auf das literarische Schas 
sen des Schriftstellers Einfluß ausgeübt haben. 
Tine, die besonders in dem „Max Havelaar," aber 
auch in seinen späteren Werken die Heldin ist, 
seine Nichte Sietske Swart Abrahamsz, deren leiden 
schaftliche Verehrung im Sommer 1861 seinen Schaf 
fensdrang plötzlich aufflammen lies;, so daß er in 
einigen Wochen die Liebesbriefe schrieb 5 ; und seine 
spätere zweite 'Frau, die von 1865 bis an seinen 
Tod sein guter Engel gewesen ist und ihm wenig 
stens später die Ruhe hat verschaffen können, die 
für eine gedeihliche schriftstellerische Tätigkeit er 
forderlich ist. 
Der Einfluß einer vierten Frau, die in den 
Briefen „Ottilie aus Kassel" genannt wird, wird 
nur flüchtig gestreift, weil man bisher zu wenig von 
ihr wußte. Allerdings kommt ihr voller Name und 
ihre Adresse auch in einer niederländischen Quelle 
vor, wie ich nachträglich gesehen habe, nachdem ich 
schon von anderer Seite Wichtiges über sie er 
fahren hatte, und zwar in einem ziemlich verwor 
renen und schlechtgeschriebenen Buch: „Rudolf Char 
les d'Ablaing van Giessenburg (Firma R. C. 
Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904, per- 
4 Dr. I. van den Bergh-Elias, Multatuli. Amster 
dam o. I. 
s Ban den Bergh-Elias ebd. S. 104. 
soolijke Herinneringen door M(eersmans), alsinede 
d'Ablaings omgang met Multatuli (Ed. Douwes 
Dekker) in de jaren 1860—1866 geschetst uit beider 
nog onuitgegeven brieven en bescheiden, inet een 
voorwoorb van Chr. Nuys, Amsterdam, 1904" (Ru 
dolf Charles d'Ablaing van Giessenburg (Firma 
R. C. Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904; 
persönliche Erinnerungen von Mseersmans), sowie 
d'Ablaings Verkehr mit Multatuli (Ed. Douwes 
Dekker) in den Jahren 1860—1866, dargestellt 
nach beider unveröffentlichten Briefen und Doku 
menten mit einem Vortvort von Chr. Nuys). D'Ab 
laing war damals Dekkers Verleger. Auf Seite 8 
findet sich ein undatierter Brief von Dekker an 
d'Ablaing: Spediere heute durch die Post eomplette 
Ideen (23 Bogen) an Fräulein Ottilie Coß, Kö- 
ningstraße 6 7 , Cassel. Sie bittet mich darum. Sie 
gerade ist geeignet, sie in Deutschland zu verbreiten/ 
Aus dieser Quelle wird wohl auch der Name 
Ottilie Cos; stammen, den wir in der Einleitung 
zu einer Auswahl aus Multatuli von 
I. B. Meerkerk, A m st e r d a m, 192 0, finden. 
Auch in der zweiten Auslage seines obenerwähnten 
Werkes spricht Meerkerk in einer Fußnote von 
Ottilie Coß. In dem Text nennt er sie noch Ottilie 
Worthmann. In der ersten Auflage hielt er sie für 
die Tochter des Hotelbesitzers, bei dem Dekker ge 
wohnt haben soll. Den .Hotelbesitzer nennt er noch 
in der zweiten Auflage Worthmann. Woher dieser 
Name stainmt, ist nicht zu ermitteln, da er nicht 
systematisch seine Quellen nennt. Wie mir ver 
sichert wirb, hat es keinen Hotelbesitzer Worthmann 
in Kassel gegeben. 
Durch einen glücklichen Zufall bin ich in der 
Lage, über Ottilie unb ihre Familienverhältnisse 
neues Material zu beschaffen. Dies verdanke ich 
an erster Stelle einer jetzt hier ansässigen Dame, 
Frau Mathilbe Mardorf-Dellevie. Anläßlich einer 
in ber Frankfurter Presse aufgenommenen Mittei 
lung über vom Holland-Institut veranstaltete Vor 
trüge, unter denen auch ein Vortrag von mir über 
Multatuli angekünoigt wurde, schrieb sie mir, daß 
sie Dekker in Kassel gekannt unb den „Max Have 
laar" in ber Ursprache gelesen habe. Mündlich 
teilte sie mir bann später mit, daß sie Ottiliens 
Freunoin gewesen sei und mit ihr das Werk gelesen 
habe. Von ihr erfuhr ich noch andere Einzelheiten, 
die weiter unten zur Sprache kommen werden. 
Sie teilte mir u. a. mit, daß Ottilie früh gestorben 
sei, ihre Tochter, Fräulein Else Katzenstein, aber 
6 Wahrscheinlich ein Schreibfehler des Herausgebers. 
7 Weil die dreiundzwanzig Bogen wohl die ersten 
vier Lieferungen und einen Teil der 5 ten des ersten 
„bundels" der Ideen werden enthalten haben, die vierte 
Lieferung im Aug. und die 5 te und Schlußlieferung 
im Nov. 1862 erschienen ist, muß der Brief zwischen 
Aug. und Nov. geschrieben sein. Bergl. Nultatuliana, 
verspreide en onuitgegeven stukken, medegedeeld door 
Or. A. S. Kok, met een bibliographisch overzicht der 
geschriften van Multatuli door L. D. Petit, Baarn 
1903 S. 4.
	        

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