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sie weis; sich geliebt über viele, sie wirft sich bis
weilen vor/ baß sie sich nicht genügend zu seiner
Seelenhoheit emporschwingen kann" 4 .
Mer auch seiner späteren zweiten Frau, Fräu
lein M. Hamminck Schepel, der Mimi der Briefe,
die von 1865 an fast ununterbrochen sein Leben
geteilt, ihm schwere Zeiten erträglich gemacht, ihn
vor mancher Unbesonnenheit bewahrt hat und, viel
leidenschaftlicher als Tine, seiner sinnlichen Natur
mehr entgegenkommt, ist er nicht immer treu geblie
ben. 'Ein großer Teil der zur „niederen Minne"
gehörigen Beziehungen haben nur für die chronique
86nnänl6U86 Interesse, nicht für die ernste Literatur
geschichte. Wer mehr darüber erfahren will, lese
die beiden Bücher von Marie Anderson: „Multa-
tuli-Wespen door Veritas, Amsterdam o. I." (Tez.
1888 oder Jan. 1889) und das ausführlichere,
teilweise eine Wiederholung des vorhergehenden,
„Uit Multatulis Leven, bijdrage tot de kennis van
zijn karakter, door Marie Anderson, Amsterdam
o. I." (Aus Multatulis Leben, Beitrag zur Kennt
nis seines Charakters, von Marie Anderson), in
denen sie aus zynische Weise auch ihre eigenen
Liebesbeziehungen zu Dekker schildert. Auch das
Werk von I. B. Meerkerk, „Multatuli. 2. Aus
lage", Groningen 1912, streift hart an die chronique
scandaleuse. Mit philiströser tugendsamer Entrü
stung ohne irgendwelche psychologische Vertiefung,
als ob Dekker durch die Verstöße gegen die bürger
liche Moral den Verfasser persönlich beleidigt hätte,
zetert er gegen Dekkers extramatrimoniale Streif
züge.
Bisher werden in der ernsten Literaturgeschichte
drei Frauen erwähnt, die auf das literarische Schas
sen des Schriftstellers Einfluß ausgeübt haben.
Tine, die besonders in dem „Max Havelaar," aber
auch in seinen späteren Werken die Heldin ist,
seine Nichte Sietske Swart Abrahamsz, deren leiden
schaftliche Verehrung im Sommer 1861 seinen Schaf
fensdrang plötzlich aufflammen lies;, so daß er in
einigen Wochen die Liebesbriefe schrieb 5 ; und seine
spätere zweite 'Frau, die von 1865 bis an seinen
Tod sein guter Engel gewesen ist und ihm wenig
stens später die Ruhe hat verschaffen können, die
für eine gedeihliche schriftstellerische Tätigkeit er
forderlich ist.
Der Einfluß einer vierten Frau, die in den
Briefen „Ottilie aus Kassel" genannt wird, wird
nur flüchtig gestreift, weil man bisher zu wenig von
ihr wußte. Allerdings kommt ihr voller Name und
ihre Adresse auch in einer niederländischen Quelle
vor, wie ich nachträglich gesehen habe, nachdem ich
schon von anderer Seite Wichtiges über sie er
fahren hatte, und zwar in einem ziemlich verwor
renen und schlechtgeschriebenen Buch: „Rudolf Char
les d'Ablaing van Giessenburg (Firma R. C.
Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904, per-
4 Dr. I. van den Bergh-Elias, Multatuli. Amster
dam o. I.
s Ban den Bergh-Elias ebd. S. 104.
soolijke Herinneringen door M(eersmans), alsinede
d'Ablaings omgang met Multatuli (Ed. Douwes
Dekker) in de jaren 1860—1866 geschetst uit beider
nog onuitgegeven brieven en bescheiden, inet een
voorwoorb van Chr. Nuys, Amsterdam, 1904" (Ru
dolf Charles d'Ablaing van Giessenburg (Firma
R. C. Meyer, Amsterdam Damrak 97) 1895—1904;
persönliche Erinnerungen von Mseersmans), sowie
d'Ablaings Verkehr mit Multatuli (Ed. Douwes
Dekker) in den Jahren 1860—1866, dargestellt
nach beider unveröffentlichten Briefen und Doku
menten mit einem Vortvort von Chr. Nuys). D'Ab
laing war damals Dekkers Verleger. Auf Seite 8
findet sich ein undatierter Brief von Dekker an
d'Ablaing: Spediere heute durch die Post eomplette
Ideen (23 Bogen) an Fräulein Ottilie Coß, Kö-
ningstraße 6 7 , Cassel. Sie bittet mich darum. Sie
gerade ist geeignet, sie in Deutschland zu verbreiten/
Aus dieser Quelle wird wohl auch der Name
Ottilie Cos; stammen, den wir in der Einleitung
zu einer Auswahl aus Multatuli von
I. B. Meerkerk, A m st e r d a m, 192 0, finden.
Auch in der zweiten Auslage seines obenerwähnten
Werkes spricht Meerkerk in einer Fußnote von
Ottilie Coß. In dem Text nennt er sie noch Ottilie
Worthmann. In der ersten Auflage hielt er sie für
die Tochter des Hotelbesitzers, bei dem Dekker ge
wohnt haben soll. Den .Hotelbesitzer nennt er noch
in der zweiten Auflage Worthmann. Woher dieser
Name stainmt, ist nicht zu ermitteln, da er nicht
systematisch seine Quellen nennt. Wie mir ver
sichert wirb, hat es keinen Hotelbesitzer Worthmann
in Kassel gegeben.
Durch einen glücklichen Zufall bin ich in der
Lage, über Ottilie unb ihre Familienverhältnisse
neues Material zu beschaffen. Dies verdanke ich
an erster Stelle einer jetzt hier ansässigen Dame,
Frau Mathilbe Mardorf-Dellevie. Anläßlich einer
in ber Frankfurter Presse aufgenommenen Mittei
lung über vom Holland-Institut veranstaltete Vor
trüge, unter denen auch ein Vortrag von mir über
Multatuli angekünoigt wurde, schrieb sie mir, daß
sie Dekker in Kassel gekannt unb den „Max Have
laar" in ber Ursprache gelesen habe. Mündlich
teilte sie mir bann später mit, daß sie Ottiliens
Freunoin gewesen sei und mit ihr das Werk gelesen
habe. Von ihr erfuhr ich noch andere Einzelheiten,
die weiter unten zur Sprache kommen werden.
Sie teilte mir u. a. mit, daß Ottilie früh gestorben
sei, ihre Tochter, Fräulein Else Katzenstein, aber
6 Wahrscheinlich ein Schreibfehler des Herausgebers.
7 Weil die dreiundzwanzig Bogen wohl die ersten
vier Lieferungen und einen Teil der 5 ten des ersten
„bundels" der Ideen werden enthalten haben, die vierte
Lieferung im Aug. und die 5 te und Schlußlieferung
im Nov. 1862 erschienen ist, muß der Brief zwischen
Aug. und Nov. geschrieben sein. Bergl. Nultatuliana,
verspreide en onuitgegeven stukken, medegedeeld door
Or. A. S. Kok, met een bibliographisch overzicht der
geschriften van Multatuli door L. D. Petit, Baarn
1903 S. 4.