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Merkwürdig ist, das; Rudolf Schlunck, dieser starke,
treue Hesse, eigentlich doch nur eilt halber .Hesse
war. Sein gleichnamiger Vater war ja ein Alt
preuße aus der Mark und Stadt Brandenburg 1 und
erst 1867 nach Kassel gekommen, wo er ein Delika
tessengeschäft in der Königstraße errichtete. Aus
einer frommen, patriotischen Familie stammend,
hat er sein ererbtes Christentum und Preußentum
auch nie verleugnet, aber er war nicht der einzige
Preuße, der damals zwischen Christentum und Pa
triotismus eine höhere Einheit fand.
Nur die ältere Generation wird sich noch des
Sedanskandals von 1873 erinnern, der mit dem
Namen Schlunk verknüpft ist. Als damals der
Vater Schlunk erklärte, er könne an einem Reiche
keine Freude vor Gott haben, das seine Wurzeln
in dem Rechtsbruch von 66 trage, und als er darum
am 2. September seinen Laden nicht schließen
wollte, da wurde sein Haus von einer radaulustigen
Menge umlagert, und es wurden ihm die Fenster
eingeworfen. Sein Geschäft blieb lange Zeit boy
kottiert.
Wie kam der Altpreuße Schlunk zu dieser Stel
lung? Er hatte sich in Kassel den streng kirchlichen,
althessischcn Kreisen angeschlossen und in ihnen
seine zweite Gemahlin Lina Witzel kennen gelernt.
Die Witzels sind eine alte hessische Lehrer- und
Pfarrerfamilie. Ein Bruder der Frau Schlunk
war der streitbare Pfarrer von Schemmern, der
schon im hessischen Treubund eine Rolle gespielt
hatte und in den nun beginnenden Kämpfen der
Renitenz mit in der ersten Reihe stand. 2 Diese
Verwandtschaft mußte unwillkürlich etwas abfärben.
Ter junge Rudolf S. (* 7. Juni 1871), der später
der Nachfolger seines Onkels in Schemmern wer
den sollte, neigte mehr nach der Seite der Mutter
als nach der des Vaters, der überdies vorzeitig
starb und seine Witwe mit neun Kindern (darunter
4 Stiefkinder) zurückließ. 3 Kaufmännische Talente
waren ihm versagt, dafür regte sich das Pfarrer-
und Schulmeisterblut der Witzels in ihm. Er stu
dierte in Leipzig, Tübingen, Marburg und Göt
tingen, war eine Zeitlang in England und wirkte
daun zwei Jahre lang als Lehrer ani Kasseler
1 Schon 1421 wird ein Schlunck als Mitglied der
frommen Gilde des Hl. Blutes zu Brandenburg er
wähnt. Ein Bruder von Rnd. Schlunk sen. war
Kaufmann zu Berlin und D. theol. hon. causa, ein
Neffe von ihm ist der bekannte Missionsinspektor und
theol. Schriftsteller Martin Schlunk. Der Stamm
baum der Familie ist im 1. Bd. des „Genealog. .Hand
buchs der bürgert. Familien" abgedruckt. Die Familie
schrieb sich früher Schlunck, eine Schreibweise, die Rnd. S.
erst in späteren Jahren annahm.
2 Julius Witzel (1828—97), seit 1864 in Schemmern,
war das erste Opfer des Kanzelparagraphen in Hessen
und wurde 1873 zu zwei Monaten Festung verurteilt.
3 Rud. Schlunk sen. starb am 4. September 1882,
nur 47 Jahre alt. Seine Witwe folgte ihm am
1. April 1898. Eine schöne Charakterskizze beider hat
der Sohn unter dem Titel „Unsere Eltern" 1912 ver
öffentlicht.
Wilhelms-Gymnasium. Im Jahre 1902 beschloß
er diese bei seinem erzieherischen Talent aussichts
reiche Laufbahn aufzugeben, um das seit dem Tod
seines Onkels Witzel verwaiste renitente Pfarramt
in Schemmern zu übernehmen, wohl bewußt, wel
ches Maß von Entsagung dieser Entschluß für
ihn bedeutete. Seitdem war er ren. Pfarrer von
Schemmern und zugleich eines Teils der ren. Ge
meinde Melsungen, die vor ihm von dem Pfarrer
Hermann Z ü l ch verwaltet worden >var. Dieser alte
Charakterkopf war hochbetagt, 88 Jahre alt, 1900
gestorben. Sein Eintreten für die Renitenz hatte
damit begonnen, daß er als Pfarrer von .Hom
bressen mit Berufung auf des Landgrafen Moritz
Verbesserungspunkte den preußischen Adler nicht
in seiner Kirche dulden wollte. Zülchs letzte Jahre
waren durch kirchenrechtliche Kämpfe mit den eignen
Konventsgliedern ausgefüllt gewesen, infolge deren
der alte Kämpfer schließlich sich von seinem Kon
vent getrennt hatte und vereinsamt gestorben war.
Ter einzige von den jüngeren Renitenten, der ihm
nahe stand, war Rudolf Schlunck gewesen, der nun
sein Erbe antrat und in jeder Weise sein Schüler'
und Nachfolger wurde.
Ich kann hier nicht auf die ungemein verwickelten
Verhältnisse der hessischen Renitenz mit ihren
inneren Kämpfen und Spaltungen eingehn, die
einem Außenstehenden ja doch immer unverständlich
bleiben werden. 4 Ter alte Pfarrer Zülch hatte
zuletzt resigniert geschrieben: „Diese Kirche zu er
halten, nachdem man ihre Ordnungen zerstört hat,
hält wohl Christus nicht der Mühe wert". Trotz
dem ist Rud. Schlunck nie der Gedanke gekommen,
ihr den Rücken zu kehren, obwohl die kleinen und
kleinlichen Verhältnisse der Renitenz ihn oft be
engten. Um sich aus dieser Enge zu befreien,
gründete er 1905 die Zeitschrift „Kirche und Welt.
Blätter aus der hessischen Renitenz", ein kirchen
politisches Kampfblatt, das wie ein Sauerteig
wirken sollte, zunächst aber einen scharfen Tren
nungsstrich zwischen politischer Rechtspartei und
kirchlicher Renitenz zog und dadurch manchen aus
dem Freundeslager vor den Kopf stieß. Über
zwanzig Jahre lang hat er, zuletzt mit seinem Amts
bruder und Schwager Witzel zusammen, diese Blätter
redigiert und schließlich mit seinen Anschauungen
Freunde und Anhänger weit über den Kreis der
ursprünglichen Leser gewonnen.
In den Weltkrieg zog Schlunck als einfacher
Landsturmmann des Landsturmbataillons Arolsen.
Ms Marburger Jäger hatte er wohl die Schießschnüre
und die uneingeschränkte Anerkennung seines Haupt-
4 Beweis dafür ist der 1926 im Jnselverlag er
schienene Roman des baltischen (!) Barons O. v. Taube
„Das Opferfest", wo die karikierte Gestalt eines Kasse
ler Schreiblehrers, der als Führer eines Splitters
der Renitenz einmal eine gewisse Rolle spielte, als
Typus dieser Kirchenbewegung und „Häuptling der hes
sischen Rechtspartei" erscheint. Mit Vergnügen liest
man darin auch, daß „tausend Bürger in der Stadt
Kassel" ihre Sprößlinge „Scheromme" taufen lassen.