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Frucht des lateinischen Unterrichts bleiben
immer die -Horazischen Dichtungen, in denen unsere
Schüler vertraut und heimisch werden sollten. —
Indessen marschierte Otto Ubbelohde mit seinen
Klassenkameraden rüstig weiter, ja meist an der
Spitze. Seine Liebhaberei, das Zeichnen, hat er
jedenfalls neben seinem Gymnasialunterricht eifrig
geübt, entweder für sich oder bei tüchtigen Künst
lern.
Besonders nahe trat mir einmal Otto Ubbelohde
bei einem großen Schulausflug (Turnfahrt nannte
man es, obwohl nie dabei geturnt wurde). Sie
ging nach dem Meißner, von da nach Witzenhausen,
Münden und Kassel. Einem glücklichen Umstande
verdanke ich, daß ich die Zeit, wo wir jenen Aus
flug machten, noch genau bestimmen kann. Selbst
das Jahr wäre mir sonst nicht erinnerlich. Wo
und wie wir in Witzenhausen übernachtet haben,
ist meinem Gedächtnis völlig entschwunden. Wir
machten aber nach dem Frühstück alle zerstreut einen
Rundgang durch die Stadt. Bei dieser Gelegenheit
stießen Otto Ubbelohde und ich aus die in einem
Garten einsam gelegene gotische, noch recht wohl
erhaltene Kapelle des St. Michaelshospitales, die
wir beide skizzierten. Als wir unsere Zeichnungen
verglichen, waren wir beide über das Ergebnis recht
befriedigt. Ich habe als Datum unter meiner Skizze
stehen „Kapelle im St. Michaelshospitale Witzen
hausen 8. 9. 83". Otto Ubbelohde war damals
Oberprimaner.
Als ich das Datum zuschrieb, hätte ich nicht
gedacht, daß die kleine Skizze mir später einmal
so viel Freude machen und eine so liebe Er
innerung an Otto Ubbelohde werden würde. Ich
habe in meinem langen Leben unzählig viel Skizzen
und auch vollkommenere Abbildungen nach der Na
tur gemacht. Nur dadurch, daß ich überall oder
fast überall das Datum hinzugefügt habe, sind sie
mir feste Anhaltspunkte für die Erinnerung auf
meinem Lebenswege geworden. Ich möchte jedem,
der dazu in der Lage ist, raten, seine Reiseer
innerungen in einem Skizzenbuche mitzuführen.
Aber auch einen Rat möchte ich zufügen, diese
Skizzenbücher nicht jedermannes Einsicht anzuver
trauen. Viele wissen nicht, wie sorgfältig man mit
solchen Schätzen umzugehen hat. Und oft muß man
von Sachunkundigen nörgelnde und ungerechte Ur
teile hören, die uns verletzen, dem entgeht man
am besten, wenn man seine Sache für sich behält.
Von Witzenhausen marschierten wir (Eisenbahn
gab es an jener Strecke damals noch nicht) aus
der schönen Straße der Werra entlang unb kamen
kurz vor Mittag in Münden an. Mit unserer
Rudolf Schlunck f.
Es wird im Jahre 1885 gewesen sein, da sind
wir uns m. W. zuerst begegnet. Es war am
20. August, ich kam vom Grabe des Kurfürsten und
an der Ecke des Spohrwegs traf ich aus eine schwarz
gekleidete Dame mit einem Jungen an der Hand,
Musik an der Spitze und in militärischer Ordnung
zogen wir stolz ein, von der Straßenjugend freund
lich bewillkommnet. Man wies uns in einen großen
schattigen Garten mit guter Wirtschaft, wo wir
uns bald von den Mühen des Marsches erholten
und erfrischten. Da erschien aus einmal ein höherer
Beamter, der sich nach den Leitern des Zuges
erkundigte. Er kam aber nicht, um uu3 freund
schaftlich zu begrüßen, sondern um uns zu be
deuten, daß tvir uns schwer gegen das Gesetz ver
gangen hätten, indem wir ohne obrigkeitliche Er
laubnis in geschlossenem Zuge und noch dazu mit
Musik in Münden eingezogen wären. Wir seien
alle miteinander straffällig und müßten für jede
Person einen Taler Strafe bezahlen. Wir waren
wie vom Himmel gefallen. Jedermann müsse doch
einsehen, daß es sich bei unserem Unternehmen
nicht uni Gesetzwidrigkeit handelte, sondern um eine
durchaus harmlose und loyale Schulfahrt. Kein
Mensch habe aus unserer mehrtägigen Fahrt etwas
Gesetzwidriges darin erblickt. Nie und nirgends
hätten sich unsere Jungen eine Rohheit oder einen
Schabernack oder einen Übermut erlaubt. Fromm
wie die Lämmer seien sie mitgezogen. Nirgends
habe man in ihrem Auftreten eine Gesetzwidrigkeit
erblickt, ebensotvenig wie wenn etiva Kinder einmal
auf der Straße Soldaten spielten. Der Vertreter
der Obrigkeit aber belehrte uns, das gehe in Münden
unmöglich an. Wenn man solche Dinge gestatte,
dann würden die Mündener bald von den benach
barten Göttinger Studenten zu Tod geärgert wer
den. Außerdem aber müsse er unsere „Reiselegi
timation" einsehen. Das war ein neuer Schlag.
Einer von uns erklärte dem Herren, er sei erst
kürzlich von einer weiten Reise nach Italien, Grie
chenland, selbst nach Konstantinopel zurückgekehrt,
aber nirgends habe man ihn nach einer „Reise
legitimation" gefragt. Einige voll den Lehrern
gingeil darauf mit dem Abgesandten zum Bürger
meister. Der ließ schließlich mit sich reden, ver
fügte aber, er wolle davon absehen, daß jeder
Teilnehmer mit 3 Mark bestraft lverde, aber damit
wenigstens dem Gesetze Geilüge geleistet lverde, wolle
er die Strafe für alle zusammen auf drei Mark
ermäßigen. Das geschah dann, und wir konnten
unbehelligt abziehen, aber das Blasen und Musi
zieren war uns verleidet. Still und betrübt zogen
wir von Münden ab. Den 8. November 1883
strichen wir als äiss neknstus an, kehrten aber doch
von unserem schönen Ausflug hochbesriedigt nach
Marburg zurück. Die Schüler hatten wenigstens alle
zu Hause etwas Interessantes zu erzähleil. —
(Schluß folgt)
Ein Erinnerungsblatt von Dr. Philipp Losch.
der einen großen Kranz mit rotweißer Schleife
trug. Das war Rudolf Schlunck mit seiner Mutter,
und die hessischen Farbeir haben uns dann zusam
mengeführt zu einer herzlichen Freundschaft von
mehr denn vierzig Jahren.