27
mußte sie wissen, was das war. Sie machte die
Schachtel mit ihren zitternden Händen auf und zwar
viel weiter als sie eigentlich wollte und brrrr —
flog ein Schwarm Fliegen ins Weite. Die alte
Frau war ganz unglücklich, daß ihr das gute Wetter
so entwischen wollte. Sie suchte zu retten, was zu
retten war, wollte es wenigstens auf den rechten
Weg bringen und rief ihm nach: „Hauwäterchen,
Hauwäterchen, heher, Kruspersch (Kruspis) is min
Ort!" —
Ich habe den Verfasser dieser Geschichte sehr im
Verdacht, daß er damit gleichzeitig den Leuten von
Kruspis, die hier in einem ihrer Torfangehörigen
als so überaus töricht hingestellt werden, eins aus
wischen wollte, und damit sind wir bei dem großen
Getvebe halb aus Linnen, halb aus Wolle) gewebt
und getragen wurde. Aber man hat auch den Pega
sus bestiegen, um dem Nachbardorfe eins auszu
wischen.
En Rotte rterod
do honn se fei Brod,
bc» fittcrn's d' Hihner
mct Dausend-Schwerenot.
*
A u a läit bäi Saase,
do summe olle Haase,
do kurnrne olle Hesse,
do kring se wos zu fresse.
*
In der Tann,
da rappelt de Pann (Pfanne),
Erbach. Das Rathaus vom „Städtel" her.
Kapitel von dem Spott, mit dem sich in ganz Hessen
land die Dörfer gegenseitig bedenken, angelangt. Es
wird inl Kreise Hersfeld Wohl kaum einen Ort geben,
der keinen Beinamen hat. Das ist eine so bekannte
Tatsache, L>aß ich hier nicht weiter darüber zu sprechen
brauche, zumal die Veranlassung zu der Namen
gebung nicht immer so klar zutage liegt wie bei den
Hersselder „Mückenstürmern" und den Friedewalder
„Schneegänsen". Um manche Orte hat sich ein gan
zer Kranz von lustigen Spottgeschichten gelegt; hier
sei Schwarzenborn an erster Stelle genannt, aber
auch Rotensee, wo zur Kirmes ein Frosch gemästet
wird, sei nicht vergessen. Ganze Täler haben ihren
Spottnamen, der Rohrbachgrund ist der „Besew-
grund", weil früher dort viel Besen hergestellt
wurden, und der Geisgrund ist der „Beiderwands-
grund", tveil in ihm früher viel Beiderlvand (ein
photogr. Institut der Technischen Hochschule, Darmstadt.
d. h. da gibt's was Gutes auf dem Tisch, ärmlich
aber ist es in Biedebach:
Die B i e r e b a ch, die Bierebach
hat mich das Betteln müd gemacht.
Die Dörfer streiten sich auch um den Vorrang, und
dabei beansprucht das ebengenannte Biedebach keinen
schlechten Platz:
Die Tann, die Tann, die Ruhrbach,
Gerterod on Drunsbach
Engerngäis (Untergeis) on Ewerngäis (Obergeis),
B i e r e b a ch läit en der Mett vorn Kräis,
d. h. in der Mitte vom Kreis, das will sagen: Biede
bach ist das erste Dorf in jenem Bezirk. Ganz deut
lich wird Rotensee:
R o r e s e e es Herr-
En gerhühn (Unterhaun) es derr (dürr),
Ewernhühn (Oberhalin) es 'n Heckennäst,
Seckels (Sieglos) es schon lang gewäst.
28
b. h. mit dem Ansehn von Sieglos ist es schon lange
vorbei. Ähnlich, aber noch etwas schärfer dichtet man
in Solms an der darmhessischen Grenze:
Salmes es Herr!
Jass' (Jossa) es derr,
Hattebach es des Lompenäst,
bo der Täiivel es tren (drin) gewäst.
In der „vergessenen Ecke", im Landecker Amte, kennt
man folgenden Vers, der sicher in Ausbach verfaßt
worden ist:
Ü s b i ch (Ausbach) d's Himmelrich,
Ronsbich (Ransbach) d's Rackernäst,
Werschhuse (Wehrshausen) d'r Welt Enng (Ende).
Beinamen oder „Annamen" erhalten aber nicht
nur die Ortschaften, sondern auch einzelne Personen.
Gerade bei diesen Spottnamen muß uns ausfallen,
>vie außerordentlich scharf unser Volk beobachten
und wie sicher es den bezeichnendsten Ausdruck dafür
finden kann. Gewöhnlich hakt der Spott bei einer
körperlichen Eigenart oder einer Angewohnheit ein.
Selbstverständlich hat jeder Lehrer seinen Beinamen,
der ihm so fest anklebt, daß er gar nicht wieder ab
geschüttelt werden kann, sondern sich wie eine Selbst
verständlichkeit durch immer neue Schülergenerationen,
forterbt. Er würde das nicht tun, wenn er nicht
so bezeichnend wäre und nicht bei jedem, der ihn
zum ersten Male hört, ein Lächeln auslösen würde,
er mag nun wollen oder nicht. In weitem Umfang
aber üben auch Erwachsene die Tätigkeit der Bei
namengebung aus, die allerdings nicht gelobt werden
soll; wenn auch hier gesagt werden muß, daß der
Spott meist harmloser Natur ist und von dem damit
Bedachten nicht übel genommen wird. Hier seien
zwei Beispiele aus Hersfeld gegeben. Ein Bürger,
der die Angewohnheit hatte, jedesmal hinter seinen
Worten ein brummendes Räuspern hören zu lassen,
hieß die „Osterglocke". Ganz ausgezeichnet beob
achtet, denn auch die Osterglocke, die größte Glocke
der Stadtkirche, summt lange nach, wenn sie aus
geläutet hat. Ein anderer Bürger, der eine nervöse
Kopfbewegung hatte, die allerdings derjenigen eines
Pferdes, das Fliegen wegjagt, sehr ähnlich sah, hieß
der Schäsegull (Chaisengaul). Hunderte von Bei
spielen ließen sich hier nennen. — In seinen schönen
Beiträgen zur deutschen Volkskunde, die Dr. Ludw.
Friedr. Werner in seinen Büchern „Aus einer ver
gessenen Ecke", mit der das Landecker Amt im Kreise
Hersfeld gemeint ist, gesammelt hat, wird uns auch
von solchen Annamen erzählt. Da ist „der al Hurra",
der so bis an sein Lebensende hieß, weil er als
Bursch beim Tanzen immer „Hurra" gerufen hatte.
Einer, der es zu etwas Vermögen gebracht hatte,
wurde „Rothschild" genannt, und ein Schuster, der
so hastig sprach, daß es aus ihm heraussprudelte wie
aus einer enghalsigen Flasche, war der „Doppel-
schläger". Allerdings — das verschweigt auch Wer
ner nicht — gibt es hier wie überall auch derbere
Namen, die nicht salonfähig sind und deren Wieder
gabe sich hier verbietet. Aber das Volk sagt diese
Derbheiten sozusagen ehrlich heraus, ohne ein Blatt
vor dem Mund zu nehmen, versteckte Frivolitäten
finden bei ihm keinen Platz. Das gilt nicht nur für
die Erzeugnisse des Volksspottes, sondern auch für
das ganze Gebiet, das von der Volkssprache und
Dichtung umfaßt wird.
Gasse.
Es wird zu spät. Sie finden nicht das Licht, Die Häuser senken ihre Köpfe schwer,
Sie irren dunkel, gleichen den Gespenstern, Es biegen stöhnend sich die breiten Massen,
Der Ruß der Schlote klebt an ihren Fenstern: Die Last des Jammers tragen sie nicht mehr
Wie gräßlich ist hier Gottes Angesicht! Und stürzen dumpf hin in die Nacht der Gassen.
Und keiner ist, der will, daß was geschehe,
Furchtbar geschehe an der finstern Macht,
Die nachts durch Gaffen schleicht und pfeift und lacht
Und lacht und pfeift über das große Wehe.
Berthold Leinweber
Iugenderinnerungen eines Kasselaners. II. Von Christoph Müller.
(Schluß.)
En großer Feez war vor uns de Messe. Am
Zwehrendurm schdand 'ne Mordgeschichde. Ter
Mann schlug immer mid en Schbanschrohrschdock
uff de Bilder, un de Frau sung derzu. De Bilder
waren so gruselich — wo der Gemordede lag, do floß
des Blud, als wemme zehn Schwinne geschlachded
hüdde. Un die Frau sung so dranrich derzu, do mußd
ich immer krischen. Do war doch d's Bubbelschbeel
was gans anneres, wann do der Kasber alle uff
de Kebbe schlug, den Dod un den Deiwel, do muß de
me richdich lachen. In de Buden ninn gehn kunnd
ich nidd, do hadd ich kein Geld derzu. Wann nu in
so'n Budenzeld en Loch in dem Linnen war, dann
wullde me derdorch gucken un un hield den Kobb
dervor. Das merkeden se dann drinne un schlugen
einen vor d's Gesichde, das ivar nu 'ne Gemeinheid.
Manchemo war au 'ne Menascherie do, dann gab
nrä min Vadder en Silwergroschen un ich kunnde