Full text: Hessenland (38.1926)

258 
wollte weiterreiten, aber wie der Blitz warf der 
Russe die Flasche fort, hieb mit dem Kantschu dem 
Spender der köstlichen Labe ein paar Hiebe über 
den Rücken und schrie mit lauter Stimme Russisch. 
Wie der Wind sprangen aus einem benachbarten 
Haus aus dem Erdgeschoß mehrere Kameraden Rus 
sisches hervor; sobald sie von dem Posten mit ein 
paar Worten verständigt waren, rissen sie unsern Öko 
nomen vom Pferde, bleuten ihn durch und plünderten 
ihn rein aus: der eine riß ihm die Uhr heraus, ein 
anderer ein paar goldene Ringe, und als Herr Fink 
die Finger krumm machte und sich zu wehren schien, 
half er mit ein paar kräftigen Kantschu-Liebkosungen 
nach, ein dritter zog dem zur Erde Geworfenen die 
schönen langen, neuen, in tadelloser Schwärze glän 
zenden Okonomenstieseln aus, ein anderer fand Ge 
fallen an seiner feinen Marderpetz mütze, andere 
an Rock und Weste — kurz in wenig Minuten war 
er bis aus Hemd, Hose und Strümpfe ausgezogen. 
Dann wiesen die „Befreier" auf die Richtung, 
von der er gekommen war, und als er sich nach 
seinem Rößlein umsah und dies in wütendem Tone 
zurückverlangte und mit dem Offizier, drohte — da 
belehrten ihn einige weitere Hiebe, daß hier kein 
Widerstand half. Zerschlagen und matt und heftig 
erbost machte er sich auf den Rückweg. Frierend und 
hungrig kam er mit blutigen Füßen nach Friedrichs 
brück, da hals ihm ein bekannter Bauer mit dem 
Nötigsten aus und erquickte den Armen, der nun 
seinen Rückweg nach Lichtenau antrat. Unterwegs aus 
der stillen, einsamen Chaussee verarbeitete er die 
gehabten Eindrücke (!) weiter, in seinem Herzen, 
und schmeichelhaft waren seine Gedanken und ab 
gestoßenen Worte nicht für die „ritterlichen" Söhne 
des großen Zaren: „Die Franzosen waren herrisch 
und lebten auf unsere Kosten herrlich; die schönen 
Hühner meines Hofes, der stolze Hahn mußten den 
Parlez-vous zur Suppe dienen und unser Wein 
schmeckte ihnen trefflich, aber sie waren doch mensch 
lich, und wenn der junge Apotheker Claus mit 
ihnen verhandelte und parlierte, so ließen sie sich 
schließlich bedeuten — aber die Kosaken, diese Räu 
ber, diese Spitzbuben! Strauchdiebe sind sie samt 
und sonders! Und ich Narr reite noch hinter ihnen 
her, und meinen schönen Fuchs mit dem guten Reit 
zeug haben die Kerle auch! daß sie der Teufel hole! 
und das wollen Befreier sein, solche Halunken! 
Und was werden sie zu Hause sagen! Wie werde 
ich ausgelacht werden! Ich muß mich vom Garten 
her ins Haus schleichen, daß mich niemand sieht. 
Ein Glück, daß es schon dämmerig wird, wenn 
ich heimkomme." — Solche und ähnliche Gedanken 
erfüllten sein zorniges Herz; schließlich aber kam 
er zum trauten Heim, und da schon die Dunkelheit 
angebrochen war, kam er von niemand gesehen in 
das Haus, dessen erleuchtete Fenster ihm freundlich 
entgegen leuchteten. Und als er eintrat in dem 
fremden Anzug und alles berichtete, da weinte die 
Mutter, daß man ihrem lieben, guten Jungen so 
übel mitgespielt hatte. Aber der alte Vater, ein 
trotziger, energischer Mann, trotz seiner 60 Jahre 
noch ungebrochen wie eine starke Eiche der nahen 
Wälder, tobte über die russischen Räuber, dann aber 
schalt er seinen Sohn und warf ihm vor, er habe 
sich gewiß ungeschickt und feig benommen, ihm 
jelber wäre so etwas sicher nicht passiert. Und je 
mehr sich der Sohn verteidigte, um so schärfer 
wurden die Vorwürfe des Alten, um so mehr ver 
bohrte er sich in die Meinung, daß so etwas nur 
einem jungen, unerfahrenen Menschen wie seinem 
„Jungen" geschehen könne. Und als'der Sohn im 
Eifer der Verteidigung nun gar noch sprach: „Euch 
wäre es nicht anders ergangen, Vater" — da brauste 
er auf: „Das wollen wir mal sehen", und fest stand 
sein Vorsatz, des andern Morgens selbst zu den Russen 
zu reiten und Recht für die Beraubung seines 
Sohnes zu verlangen. Vergebens stellte ihm sein 
Sohn das Gefährliche und voraussichtlich Vergeb 
liche eines solchen Unternehmens vor, vergebens 
flehte ihn seine Frau, die seinen stolzen und auf 
brausenden Sinn kannte, wiederholt an, hier zu 
bleiben und zu dem einen Unglück nicht noch ein 
neues zu fügen — der Vater blieb fest. Schließlich 
brach die Mutter die Unterredung ab mit den 
Worten: „Wir können ja morgen früh weiter sehen" 
und legte sich ins Bett, sie hoffte auf den Einfluß, 
den ein guter Schlaf auf ein erzürntes und er 
regtes Gemüt ausübt, und wußte aus Erfahrung, 
daß ihr „Alter" schon oft seinen Sinn über Nacht 
von selbst geändert hatte. 
Diesmal aber war die Rechnung ohne den Wirt 
gemacht. Des anderen Morgens beharrte der Alte 
noch ebenso energisch auf seinem Plan wie am 
Abend vorher. Erneute Vorstellungen, Bitten und 
Tränen prallen wirkungslos an dem Hausvater 
ab, dessen „Brust mit dreifachem Erz gepanzert" 
schien. So mußte man dem Geschick seinen Lauf 
lassen. Es wurde unter dumpfem, unheimlichem 
Schweigen gefrühstückt, dann verlangte der Alte heftig 
nach seinem Schimmel, dessen Putzen und Satteln 
auf des jungen Fink Befehl der Knecht recht langsam 
betrieben hatte — in der stillen Hoffnung auf eine 
Sinnesänderung des Vaters —, das Pferd wurde 
endlich vorgeführt, der Vater verabschiedete sich 
und tröstete die Seinen noch: „Ihr sollt sehen, ich 
bringe den Fuchs wieder mit", und stolz wie ein 
Spanier ritt er davon, während der Sohn hinter 
ihm her murmelte: „Oder ich treibe den Schimmel 
auch noch an die Weide". 
Unbeirrt von solchen unehrbietigen Gedanken sei 
nes Sprößlings verfolgte der alte Herr die Haupt 
straße über Friedrichsbrück, Helsa, Ober- und Nieder 
kaufungen nach Kassel. Unangefochten kam er durch 
Bettenhausen und gab sich schon den schönsten Hoff 
nungen hin, denn in Kassel glaubte er mit Hilfe 
eines seiner zahlreichen guten Freunde leichter zu 
einem höheren russischen Offizier gelangen und mit 
dessen Hilfe eine Bestrafung der gewalttätigen Ko 
saken und Rückgabe seines Psereds erwirken zu 
können. Aber Träume sind Schäume! und von den 
Gedanken bis zur Verwirklichung ist ein weiter 
Weg! Am Siechenhos trat ihm ein russischer Posten
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.