Full text: Hessenland (38.1926)

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Bausteine, Von Rudolf Hallo. 
Unter diesem Stichwort sollen in der Folge zwanglos kurze Mitteilungen zum Abdruck kommen, in denen unbekanntes 
Material zur hessischen Kunst- und Bildungsgeschichte vorgelegt wird. Um den Veröffentlichungen aber die Dürre 
reiner Aktenwiedergaben zu nehmen, sind sie jeweils unter einem begrenzenden Titel zusammengefaßt und in geschlos 
sene Form gebracht. Ihr erfreulichster Erfolg wäre es, wenn sie durch ihre Verbreitung im „Hessenland" zum 
Aufdecken weiterer Quellen und Nachrichten führten und dazu beitrügen, einer umfassenden hessischen Gelehrten-, 
Künstler- und Handwerkergeschichte die Grundlagen zu schaffen. 
Aus der Frühzeit der Kasseler 
Sammlungen. 
Viel stärker als es dem heutigen, durch eine be 
wußte Kunsterziehung ästhetisch gerichteten Menschen 
begreiflich erscheint, waren die Anfänge unserer 
Sammlungen auf das naturkundlich Merkwürdige 
und Nutzbare eingestellt. Nicht mit Kunstkabinetten, 
sondern mit Pflanzen-, Gestein- und Gewächs 
sammeln hebt der Bewahrungstriech der ersten Samm 
ler an. Selbst dort, wo wir, verleitet durch eine 
spätere Unterscheidung zrvischen naturwissenschaft 
lichen und kunsthistorischen Schätzen, in den aus uns 
gekommenen Resten der letzteren nur zu sehr nichts 
als „Kunst" erblicken, ist nach der Intention der 
alten Auftraggeber und Verfertiger Kunst lediglich 
die angemessene Form, um Kostbarkeiten der Natur 
zur abgegrenzten Anschaulichkeit zu bringen. Man 
braucht den Blick nur auf die erhaltenen Reste der 
landgräflichen Silberkammer im Hessischen Landes 
museum zu werfen, um an den Arbeiten, die unter 
Philipp dem Großmütigen, Wilhelm dem Weisen 
und Moritz dem Gelehrten in Kassel zusammen 
kamen, das Vorwalten des fremdartigen Stoffes 
(Kokosnuß, Straußenei, Nautilusmuschel, Horn) 
über die gleichmäßig edle Fassung zu erkennen. 
Wollte man unter diesem Gesichtswinkel dem 
Wachsen unserer Sammlungen nachspüren, so würde 
sich zeigen, daß nicht bloß einzelne Stücke, wie etwa 
das bei den Kleinodien aufbewahrte Gehänge aus 
schwedischen Metallen von 1720 1 oder das als 
Silberbrosche gefaßte Schaumburger Wappen mit 
seinem Kristallbesatz, das der Kammerdirektor von 
Zanthier 1779 „als ein Landesprodukt" dem Land 
grafen in sein neu eröffnetes Nusenni Fridericianum 
überreichte, erst von diesem Boden aus den Zu 
sammenhang mit den reinen Kunstsammlungen 
wiederfänden, sondern daß ganze große Abteilungen 
wie die Bergkristallsammlung, die Elfenbein-, Bern 
stein- und Achatkammer erst dann ihre Zugehörig 
keit gültig auszuweisen vermöchten; denn gerade bei 
den zuletzt genannten Materialien wird es mit 
Händen greifbar, wie über den seltenen Stoff, den 
die Natur liefert, der Mensch die Kunst der Form 
wirft. 
Es ist nicht leicht, sich von der Entstehung unse 
rer Sammlungen ein zutreffendes Bild zu machen, 
selbst wenn man die Zusammenziehung von Antiken 
und Pseudoantiken ganz außer acht läßt, da diese 
einen von Kunsttheorie und Heroenkult gewiesenen 
Sondergang geht und ihre Objekte durchaus und * 
* s. die Note am Schluß. 
allein als Kunst gefaßt wissen will; innere Gesetz 
lichkeiten kreuzen sich mit äußeren Anstößen, wie 
der Marmorbeute aus der Kampagne nach Morea 
von 1688 oder der Waffenbeute aus den Türken 
kriegen von 1717, und verleihen dem Gesicht der 
Sammlung seine schwer vereinbaren Züge. Eines 
aber sollte man nicht übersehen, was für den 
ganzen Zeitabschnitt des Barocks wesenhast ist: als 
Kunstsammlungen sind seine Sammlungen nicht 
entstanden! An ihrem Anfang steht — das Maga 
zin. Nichts anderes ist das Geheimnis der Leben 
digkeit der alten Stücke als gerade dies, daß sie für 
den leibhaftigen Gebrauch und nicht für die Schau- 
stellmtg und Nachahmung geschaffen sind. Nur das, 
was Hof und Hofstaat an Gerät, Schmuck oder 
Prunk nicht länger in Nutz und Brauch hatten und 
was, im Gegensatz zu den Edelmetallen, der Um 
formung in den stets kurzlebigen Zeitgeschmack wider 
strebte, nur das kam in die Sammlungen. Beson 
ders irr der Regierungsperiode des Landgrafen Karl 
läßt sich dieser Vorgang der Aussonderung am 
Hose und der Anhäufung im Kabinett noch deutlich 
nachzeichnen. Zugleich läßt sich aber auch verfolgen, 
wie nach der Erreichung eines gewissen Sättigungs 
zustandes die Kräfte umschlagen und die Samm 
lungen das Übergewicht über den Gebrauch 
bekommen, so sehr, daß die Magazine durch die Fülle 
ihrer Kostbarkeiten Kostbares anziehen und nach ge 
ordneter Ausstellung und Beachtung ihres Inhalts 
drängen. 
Volt diesem Zeitpunkt an, der überall spätestens 
um die Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht scheint, 
„ verschwinden die Kuriositäten- und Antiquitäten 
kammern und machen den dem Beschauer zuge- 
wandten Museen im modernen Sinn des Wortes 
Platz, Museen, in denen nun dieselben alten Schätze, 
die noch eben als besitzhaste Massen gestapelt waren, 
eine völlig gewandelte Bedeutung und isolierten 
Wert gewinnen. Von nun an sind es die Samm 
lungen, die auf die großen Besitzer ihre unwider 
stehlich lockende Kraft ausüben, und die nicht nur 
einem freigebigen Friedrich II., sondern auch dem 
verschlosseiten Wilhelm IX. Stück aus Stück aus den 
Händen nehmen, gerade als ob Besitz in der privaten 
Verborgenheit stumm und erst im Widerhall der 
Öffentlichkeit klingend würde. Danebenher geht, un 
berührt von diesen tiefgreifenden Veränderungen in 
der Struktur des Sammlungswesens, die Antiken- 
und die ihr verwandte Münzen- und Medaillen 
sammlung ihren akademischen Gang und schickt sich 
an, es ohne Scheu vor Abguß und Nachbildung 
ait Vollständigkeit und System den beneideten Natur 
museen gleich zu tun.
	        
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