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Bausteine, Von Rudolf Hallo.
Unter diesem Stichwort sollen in der Folge zwanglos kurze Mitteilungen zum Abdruck kommen, in denen unbekanntes
Material zur hessischen Kunst- und Bildungsgeschichte vorgelegt wird. Um den Veröffentlichungen aber die Dürre
reiner Aktenwiedergaben zu nehmen, sind sie jeweils unter einem begrenzenden Titel zusammengefaßt und in geschlos
sene Form gebracht. Ihr erfreulichster Erfolg wäre es, wenn sie durch ihre Verbreitung im „Hessenland" zum
Aufdecken weiterer Quellen und Nachrichten führten und dazu beitrügen, einer umfassenden hessischen Gelehrten-,
Künstler- und Handwerkergeschichte die Grundlagen zu schaffen.
Aus der Frühzeit der Kasseler
Sammlungen.
Viel stärker als es dem heutigen, durch eine be
wußte Kunsterziehung ästhetisch gerichteten Menschen
begreiflich erscheint, waren die Anfänge unserer
Sammlungen auf das naturkundlich Merkwürdige
und Nutzbare eingestellt. Nicht mit Kunstkabinetten,
sondern mit Pflanzen-, Gestein- und Gewächs
sammeln hebt der Bewahrungstriech der ersten Samm
ler an. Selbst dort, wo wir, verleitet durch eine
spätere Unterscheidung zrvischen naturwissenschaft
lichen und kunsthistorischen Schätzen, in den aus uns
gekommenen Resten der letzteren nur zu sehr nichts
als „Kunst" erblicken, ist nach der Intention der
alten Auftraggeber und Verfertiger Kunst lediglich
die angemessene Form, um Kostbarkeiten der Natur
zur abgegrenzten Anschaulichkeit zu bringen. Man
braucht den Blick nur auf die erhaltenen Reste der
landgräflichen Silberkammer im Hessischen Landes
museum zu werfen, um an den Arbeiten, die unter
Philipp dem Großmütigen, Wilhelm dem Weisen
und Moritz dem Gelehrten in Kassel zusammen
kamen, das Vorwalten des fremdartigen Stoffes
(Kokosnuß, Straußenei, Nautilusmuschel, Horn)
über die gleichmäßig edle Fassung zu erkennen.
Wollte man unter diesem Gesichtswinkel dem
Wachsen unserer Sammlungen nachspüren, so würde
sich zeigen, daß nicht bloß einzelne Stücke, wie etwa
das bei den Kleinodien aufbewahrte Gehänge aus
schwedischen Metallen von 1720 1 oder das als
Silberbrosche gefaßte Schaumburger Wappen mit
seinem Kristallbesatz, das der Kammerdirektor von
Zanthier 1779 „als ein Landesprodukt" dem Land
grafen in sein neu eröffnetes Nusenni Fridericianum
überreichte, erst von diesem Boden aus den Zu
sammenhang mit den reinen Kunstsammlungen
wiederfänden, sondern daß ganze große Abteilungen
wie die Bergkristallsammlung, die Elfenbein-, Bern
stein- und Achatkammer erst dann ihre Zugehörig
keit gültig auszuweisen vermöchten; denn gerade bei
den zuletzt genannten Materialien wird es mit
Händen greifbar, wie über den seltenen Stoff, den
die Natur liefert, der Mensch die Kunst der Form
wirft.
Es ist nicht leicht, sich von der Entstehung unse
rer Sammlungen ein zutreffendes Bild zu machen,
selbst wenn man die Zusammenziehung von Antiken
und Pseudoantiken ganz außer acht läßt, da diese
einen von Kunsttheorie und Heroenkult gewiesenen
Sondergang geht und ihre Objekte durchaus und *
* s. die Note am Schluß.
allein als Kunst gefaßt wissen will; innere Gesetz
lichkeiten kreuzen sich mit äußeren Anstößen, wie
der Marmorbeute aus der Kampagne nach Morea
von 1688 oder der Waffenbeute aus den Türken
kriegen von 1717, und verleihen dem Gesicht der
Sammlung seine schwer vereinbaren Züge. Eines
aber sollte man nicht übersehen, was für den
ganzen Zeitabschnitt des Barocks wesenhast ist: als
Kunstsammlungen sind seine Sammlungen nicht
entstanden! An ihrem Anfang steht — das Maga
zin. Nichts anderes ist das Geheimnis der Leben
digkeit der alten Stücke als gerade dies, daß sie für
den leibhaftigen Gebrauch und nicht für die Schau-
stellmtg und Nachahmung geschaffen sind. Nur das,
was Hof und Hofstaat an Gerät, Schmuck oder
Prunk nicht länger in Nutz und Brauch hatten und
was, im Gegensatz zu den Edelmetallen, der Um
formung in den stets kurzlebigen Zeitgeschmack wider
strebte, nur das kam in die Sammlungen. Beson
ders irr der Regierungsperiode des Landgrafen Karl
läßt sich dieser Vorgang der Aussonderung am
Hose und der Anhäufung im Kabinett noch deutlich
nachzeichnen. Zugleich läßt sich aber auch verfolgen,
wie nach der Erreichung eines gewissen Sättigungs
zustandes die Kräfte umschlagen und die Samm
lungen das Übergewicht über den Gebrauch
bekommen, so sehr, daß die Magazine durch die Fülle
ihrer Kostbarkeiten Kostbares anziehen und nach ge
ordneter Ausstellung und Beachtung ihres Inhalts
drängen.
Volt diesem Zeitpunkt an, der überall spätestens
um die Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht scheint,
„ verschwinden die Kuriositäten- und Antiquitäten
kammern und machen den dem Beschauer zuge-
wandten Museen im modernen Sinn des Wortes
Platz, Museen, in denen nun dieselben alten Schätze,
die noch eben als besitzhaste Massen gestapelt waren,
eine völlig gewandelte Bedeutung und isolierten
Wert gewinnen. Von nun an sind es die Samm
lungen, die auf die großen Besitzer ihre unwider
stehlich lockende Kraft ausüben, und die nicht nur
einem freigebigen Friedrich II., sondern auch dem
verschlosseiten Wilhelm IX. Stück aus Stück aus den
Händen nehmen, gerade als ob Besitz in der privaten
Verborgenheit stumm und erst im Widerhall der
Öffentlichkeit klingend würde. Danebenher geht, un
berührt von diesen tiefgreifenden Veränderungen in
der Struktur des Sammlungswesens, die Antiken-
und die ihr verwandte Münzen- und Medaillen
sammlung ihren akademischen Gang und schickt sich
an, es ohne Scheu vor Abguß und Nachbildung
ait Vollständigkeit und System den beneideten Natur
museen gleich zu tun.