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Wohl seines Volkes, seiner genauen Kenntnis der
inneren Verhältnisse seines Landes, seiner uner
müdlichen Tätigkeit und seiner hohen, nur manch
mal mißverstandenen Gerechtigkeitsliebe, in seiner
geregelten, einfachen Lebensweise, mit seiner fast
unbeschränkten persönlichen Zugänglichkeit für jeden,
der etwas zu klagen oder zu bitten hatte — er
hätte sein Lebensziel, die Zufriedenheit seiner
Untertanen zu erwerben, sicher erreicht, wenn
nicht die Abneigung gegen die landständische Ver
fassung in seinen letzten Lebensjahren, im Gegensatz
zu dem von ihm selbst veranlaßten Entwurf, so
scharf hervorgetreten wäre und er seinem Hang zur
Autokratie nicht mehr und mehr nachgegeben hätte.
Dazu kommt seine weit übertriebene Sparsamkeit,
die ihn nicht einmal den unabweisbaren Staats
bedürfnissen gerecht werden ließ, So konnte es
kommen, daß er, der ursprünglich selbst für eine
zeitgemäße Verfassung eingetreten war, sie schließ
lich nachhaltig verjagte und dadurch die Geduld
seines an sich gar nicht unruhigen Volkes aufs
höchste anspannte und hierdurch seinem Sohn und
Nachfolger das Betreten ähnlicher Bahnen außer
ordentlich erschwerte.
In der eigensinnigen Selbstherrlichkeit, der Wil
helm I. mehr und mehr die Zügel hatte schießen
lassen, wurde er von seinem Sohn und Nachfolger
noch übertroffen. Ohne Besinnen setzte dieser sich übev
die alte Gewohnheit hinweg, nach der bei jedem
Regierungswechsel der neue Regent die Landstände
einberief, um mit ihnen über die nächsten Aufgaben
zu beraten; dabei war es schon seit 100 Jahren üb
lich geworden, daß in dem Landtagsabschied die
landständischen Gerechtsame ausdrücklich bestätigt
wurden. Wilhelm II. hielt nichts von alledem für
nötig. Statt dessen erließ er eine Verordnung zur
„Umbildung der bisherigen Staatsverwaltung",
durch die nach gleichzeitigem Urteil viele Einrich
tungen und Verbesserungen besonders in der Justiz
verwaltung angeordnet wurden, die als wirkliche
Garantien für das Volk betrachtet werden durften,
durch die aber auch manches neu eingeführt wurde,
was sich nicht bewährt hat. Einen wirklichen
und zum Teil recht erheblichen Fortschritt be
deutete die scharfe Sonderung und nähere Um
grenzung des Geschäftskreises aller oberen und unte
ren Staatsbehörden, die Trennung der Recht
sprechung von der Verwaltung, die Unabhängigkeit
der Rechtspflege, die Übertragung der bisher z. T.
in administrativer Form ausgeübten Strafrechts!-
pflege an die Gerichte und schließlich die Anordnung
einer Oberaufsicht über die Staatseinnahmen und
-Ausgaben und die Sorge für einen regelmäßigen
Staatshaushalt. Die schwächste Seite der Umbil
dung war das gänzliche Fehlen jeder Bindung, durch
die der Landesherr zur Ausführung seiner eigenen
Bestimmungen angehalten wurde; daneben war der
ganze Organismus und der Aufbau der Behörden,
der ein Vielregieren und Bevormunden der Ge
meinden und Staatsbürger nur allzusehr begün
stigte, recht bedenklich. Und schließlich erwies sich
der so geschaffene Beamtenapparat als so teuer, daß
die zur Verfügung stehenden Mittel nicht aus
reichten und die öffentlichen Abgaben erhöht werden
mußten. So wurde diese Umbildung sehr rasch zu
einer Quelle weitverbreiteten Unmuts, der um so
berechtigter war, als die ganze Neuordnung ein- und
durchgeführt worden war ohne Mitwirkung der
Stände, die seit 1816 überhaupt nicht mehr ver
sammelt worden waren. Um so Zahlreicher waren
die Verfügungen, die verfassungsgemäß nur unter
Mitwirkung der Landstände getroffen werden konn
ten und jetzt mittels einseitiger Verordnungen ver
kündigt wurden.
Dem Lande fehlte jede Möglichkeit, diesen drücken
den Zuständen aus gesetzmäßigem Weg zu entrinnen,
und tiefe Niedergeschlagenheit und Verstimmung
ging durch alle Kreise. Als dann noch infolge einer
verfehlten Außenhandelspolitik zeitweise Nahrungs
mangel eintrat, da stieg die Mißstimmung der lang
mütigen Bevölkerung in bedenklichem Maß. Me
Nachricht von der französischen Julirevolution mag
auch noch steigernd gewirkt haben, wenn auch ihr
Einfluß nicht überschätzt werden darf. Jedenfalls
sahen sich aber die ordnungliebenden Kreise zur
Aufmerksamkeit veranlaßt, und die Vorsteher der
Zünfte beschlossen unter Leitung des regsamen
,Mildemeisters der Küferzunft" Herbold, für die
Aufrechterhaltung der Ruhe und gesetzlichen Ord
nung alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel anzw
wenden. Daneben sollte dem Kurfürsten, der nach
schwerer Erkrankung aus Böhmen zurückerwartet
wurde, eine eindringliche Vorstellung über die Not
des Landes überreicht werden. Ein gleiches Ver
langen hatten eine Anzahl angesehener Bürger an
den Magistrat von Kassel gestellt und dabei auf die
Notwendigkeit, die Stände zu versammeln, hinge
wiesen. Am 15. September 1830 fand dann jene
denkwürdige Audienz statt, in der Bürgermeister
Schomburg dem Kurfürsten eine mit 1400 Unter
schriften versehene Bittschrift mit eindringlichen,
würdigen Worten überreichte und auch hier die
Forderung nach Einberufung der Stände unmittel
bar aussprach. Es ist die bekannte Szene, die Lud
wig Emil Grimm in seiner noch heute in vielen
Häusern zu findenden Zeichnung festgehalten hat.
Daß der Landtag, den man allgemein verlangte,
auch eine neue Landesverfassung bringen sollte, das
war in all den Kundgebungen höchstens ganz leise
angedeutet, und auch bei der rasch folgenden Eiw
berufung war davon kein Wort gesagt. Erst nach
Verlauf von drei Wochen ließ der Kuxsürst den
inzwischen gewählten Abgeordneten einen vom 7. Ok
tober 1830 datierten ^Entwurf eines neuen Staats
grundgesetzes vertraulich mitteilen, der im wesent
lichen auf dem Entwurf von 1816 aufgebaut und
nur in mehreren Einzelheiten weitergebildet war,
was nicht immer einen Fortschritt bedeutete. So war
z. B. die alte Kurien-Einteilung, die der Abstim
mung zugrunde lag, wieder hergestellt; erst wenn sie
sich nicht zu einem Beschluß vereinigen konnten,
trat die Abstimmung nach Stimmenmehrheit ein.