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hier' eine Fülle authentischen Materials für das
innere und äußere Leben jener Zeit. In die Kasseler
Zeit- fallt dann sein grundlegendes Werk, die „Ge
schichte der deutschen Kultur", eine bis heute noch nicht
überbotene Geschichte deutschen Wesens. Hier gibt er
eine systematische, organisch zusammenhängende Ge
samtdarstellung der Entwicklung der deutschen Kultur
und arbeitet neben klarer Aufdeckung der Gesamt-
strömungeu die Wechselbeziehungen zwischen den ver
schiedenen Zweigen der Entwicklung scharf heraus.
Hier war zum ersten Male Ernst gemacht mit dem
Begriff einer wissenschaftlichen Kulturgeschichte, wurde
der Kern in den großen Zusammenhängen gesucht.
Aus der Zahl seiner übrigen Werke seien noch
„Häusliches und gesellschaftliches Leben im 19. Jahr
hundert", „Die germanische Kultur in der Urzeit",
„Die Kulturgeschichte der Deutschen im Mittel
alter" upd „Die Kulturgeschichte der Deutschen in
der Neuzeit" genannt.
Nicht minder beachtenswert sind alle jene Aufsätze,
in denen er mit scharfem Blick und gewappnet mit
dem Rüstzeug seiner historischen Kenntnisse zu bren
nenden Zeitfragen Stellung nahm und noch heute
nimmt. Mochte er nun, vier Jahre vor dem Welt
krieg, die Gründe für die Unbeliebtheit der Deutschen
im Ausland nachweisen, in rücksichtsloser sachlicher
Kritik, frei von moralisierenden Betrachtungen, die
„Grundfehler des Krieges" aufdecken, die „Schuld
der Heimat" untersuchen oder über unsere „gesell
schaftliche Kultur", die „Verwirrung der Geister",
die „Charakterlosigkeit als Ursache deutschen Ver
falls", die „Entwertung aller Werte", die „Unter
gangsstimmung der Gegenwart" oder über die „Tra
gik der höheren Menschen" schreiben.
Schon die Titel dieser viel beachteten Beiträge
zur Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte, die wir
hoffentlich bald einmal vereinigt sehen werden, lassen
erkennen, daß Steinhaufen im allgemeinen den Zeit-
erscheinungen recht pessimistisch gegenübersteht. Er,
der schon Jahre vor dem Weltkrieg warnend auf den
Niedergang hingewiesen hatte, hat dieses sein herbes
Urteil über die zunehmende Veräußerlichung der
Kultur im kaiserlichen Deutschland, das er unter
dem Eindruck des beim Kriegsausbruch vorüber
gehend zutage tretenden idealeren Aufschwungs mil
dern zu müssen geglaubt hatte, wieder schroff auf
genommen. So kann für ihn zurzeit von einer gesell
schaftlichen Kultur keine Rede sein, wenn er auch
nicht verkennt, daß sich wenigstens unter der Jugend
schon vor dem Krieg unter Ablehnung des geschmack
losen gesellschaftlichen Treibens ein Drängen nach
neuen Formen der Geselligkeit entwickelt hatte. Als
eine der Hauptursachen des deutschen Verfalls er
scheint ihm die Charakterlosigkeit, vor allem hin
sichtlich der moralischen und politischen Vertretung
des eigenen Selbst. Dazu kommt die Entwertung
aller Werte, sowohl der moralischen als solcher auf
dem Gebiet des Geschmacks. Aber gegenüber der
Untergangsstimmung der Gegenwart weist er doch
einen möglichen Aufstieg nicht von der Hand, wenn
anders das deutsche Volk unter Überwindung der un
seligen Zersplitterung und des öden Parteiwesens
sich davon überzeugt, daß es wirklich am Rande des
Untergangs steht.
Bemerkenswert ist die Stellung, die Steinhausen
gegenüber der Losung der Gegenwart „der Mensch
ist gut" einnimmt. Auch das Gegenteil könne mit
Gründen gestützt werden. Eine maßgebliche Schicht
haben die Guten zu keiner Zeit gebildet, wenn es
auch — wie kurz vor dem letzten Krieg — Zeiten
gab, die einen allgemeinen Willen zum Guten er
kennen ließen. Und doch war der eigentliche Nähr
boden des Weltkrieges der Materialismus der Zeit.
In solchen Zeiten erleben die Guten, die ethisch,
d. h. unegoistisch Gerichteten, die, ihrem innersten
Wesen folgend, sich selbstlos Opfernden die Tragik,
von der Mehrheit bekämpft und ausgenutzt zu wer
den. Schon Schillet hatte den unerfüllbaren Wunsch
ausgesprochen, daß „immer die Guten auch groß,
immer die Großen auch gut" seien. Und so wäre
es erstrebenswert, daß nicht nur die starken In
telligenzen und rücksichtstosen Willens menschen, son
dern gerade auch die Guten Führer des Volkes
würden. Eine solche Tragik hastet überhaupt allen
höheren Menschen an, die ebenso wie die mittel
mäßigen Herdenmenschen in allen Schichten vor
kommen. Keineswegs gehören alle geschichtlich ab
gestempelten „großen Menschen" auch zu den „höhe
ren Menschen", jener, wie gesagt, in allen Stünden
vertretenen Aristokratie des Geistes und der Ge
sinnung. So fällt nur ein Teil der Künstler und
Dichter, der Philosophen und Gelehrten unter diesen
Begriff. Diesen höheren individuellen Ausnahme
menschen steht die mittelmäßige Menschheit blind, ja
feindlich gegenüber. In dieser Verkennung, diesem
so entstehenden Konflikt mit der Mittelmäßigkeit
liegt eine hohe Tragik. Aus solcher Kluft ergibt sich
die Einsamkeit- das geistige Alleinstehen, das Schopen
hauer als Vorzug der Großen pries. Erhöht wird
diese Tragik oft noch durch das Schicksal, das vielen
höheren Menschen nicht den Boden gibt, auf dem sie
gedeihen können, und so gelangen sie aus dieser
Nichterfüllung ihres Wesens heraus dann oft zu
einer Weltüberwindungsweise, die Steinhaufen die
Philosophie des Abstands nennt, wie sie sich etwa
bei den großm philosophischen Denkern und den
Weisen im Sinne Buddhas ausprägt. Bei solcher
Weltüberlegenheit schwindet auch ein wesentlicher
Teil der Bitterkeit des tragischen Loses, das den:
höheren Menschen beschieden ist.
Eingehend hat sich Steinhaufen in jüngster Zeit
noch einmal über den unindividualistischen Geist des
letzten Menschenalters ausgesprochen. Auch Ottmar
Spann hatte ja die jetzige große Zeitwende als eine
auf das Absterben des Individualismus hinzielende
Gegenrenaissance bezeichnet. Steinhaufen weist nun
(Archiv für Kulturgeschichte XVI. 2.) nach, welche
Bindungen in den letzten Jahrzehnten das indivi
duelle Denken unterdrückten und das Schöpferische,
in dem er das wesentliche Moment des Individualis
mus sieht, mehr und mehr schwinden ließen. Schon
vor 80 und 40 Jahren hatten Burckhardt und La-