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Frau, da er Arzt ist, an das Bett unseres kran
ken Kindes."
„Gott sei Dank!" sagte der Landrat und
lachte verlegen, um gleich darauf zu fluchen.
„Bitten Sie sich eine halbe Stunde von Ihrer
Frau frei, ich bin Ihnen eine Erklärung schul
dig", bat er dann. „Ich will sie Ihnen im
Gemeindehaus geben."
Der Pfarrer schüttelte nachdenklich den Kops.
Nun erfuhr er die Entstehungsgeschichte einer
Lawine, die fast sein Glück verschüttet hätte.
Unterwegs erzählte der Landrat dem Pfarrer,
was er von seinem Apfel- und Fischlieferanten
und der Superintendent voin Schneider-Herr-
mann erfahren hatte. „Goldrenetten?" Der
Pfarrer lächelte. „Die sind auf meinem Acker-
gewachsen — Die Fische? Die sind aus dem
Pfarrteich — und das andere — die Verleum
dungen — die sind wie Spinnfäden, die durch
die Luft fliegen — wirklich sie sind aus der
Luft gegriffen — man weiß nicht recht, wer
dafür verantwortlich gemacht werden kann ..."
„Ja •— ja," sagte der Landrat, „wenn's doch
mehr Leute in der Welt gäbe, die das Gute
als Unterlage für Erklärungen unverständ
licher Dinge benutzen wollten —"
Der Landrat schickte nach den Schelmen.
Buckelfack war zuerst zur Stelle. Er rieb sich
verlegen-höflich die Hände und fragte, ob er
dem Herrn Landrat mit irgend etwas dienen
könne. Der Landrat sagte: „Buckelsack, als der
Regimentsarzt Bunger von seiner Schwester,
der Frau Pfarrer, auf der Landstraße heute
nacht Abschied nahm, stahlt Ihr von dem
Euch anvertrauten Obst das beste. Wollt Ihr
leugnen?"
Hessens Schicksalsstunde.
Ruhig liegt Berlin da; alles geht feinen
geregelten Gang; alles ist auch in fester Hano.
Der politische Horizont zeigt keine düsteren,
drohenden Wolken mehr. Der König von Preu
ßen hat seine Residenz verlassen und sich nach
seinem Hofjagdgebiet nach Groß-Schönebeck an
der Elbe begeben, um nach Weidmannsart auf
der Jagd Erholung zu finden. Während die
hohen Herrschaften dem edlen Weidwerk nach
gehen, sitzt in der Residenz der „Eiserne" und
hämmert und hämmert mit eisernem Hammer.
Er hämmert Geschichte, zertrümmert die Reiche,
zerschlägt die Staaten. Er macht Weltgeschichte.
Und in Hessens kurfürstlicher Residenz holt eben
Nein, wie konnte er das denn.
„Es wäre auch mehr als dummdreist; denn
so gewiß Ihr saht, daß Bruder und Schwester
sich küßten, so gewiß kamen Eure Diebereien
an den Tag!"
Trubbe und Schneider-Herrmann benahmen
sich ihrem Temperament entsprechend. Sie
schoben alles auf Buckelsack, der ihnen Tat
sachen berichtet haben wollte. Der Feldhüter
und der Teichwart verloren ihr Amt, und den
Schneider ereilte die Strafe, die auf das Vogel
stellen gesetzt ist, und der Landrat erteilte allen
dreien in seiner Art einen derben Verweis.
Und welche Strafe erhielten die, die so gern
das Schlechte für wahr annehmen? Beschä
mung brennt ähnlich wie Nesseln —
Ob die drei nie mehr Äpfel und Fische stahlen
und Leimruten legten?
Sie sind nicht wieder dabei erwischt worden,
aber mit des Pfarrers sittlichen Forderungen
konnten sie sich ebensowenig befreunden, als
des Landrats Schwester imstande war, die
Volksseele zu verstehen . . . Wer das will, darf
die Welt nicht non Hörensagen kennen, sondern
muß sich ins Handgemenge begeben. Aber das
mögen nur jene wagen, die die Kunst verstehen,
ohne sich die Hände zu beschmutzen.
Und Engelhardt sagte zu seiner Frau: „Sieh
nur, Jettchen, da hätte ich fast aus Unbesonnen
heit jemand unrecht getan, und der Distelfink
war regelmäßig mit Leimruten gefangen! Daß
die Menschen so oft in der verkehrten Richtung
mißtrauisch sind!"
Ja, woher mag das wohl kommen?
die Glocke aus, hoch vom Turm, und schlägt 11.
Sie schlägt so laut; und doch so wehmütig klingt
ihr lauter Klang. Sie läutet Zeitgeschichte. Sie
redet vom Kommen und Gehen, vom Vergehen
und Verwehen. Ihr Klang erklingt gar tief in
manches treuen Hessen Herz. Es ist Hessens
Schicksalsstunde. Da wird's still sein auf dem
Friedrichsplatz, trotzdem eine tausendköpfige
Menge sich versammelt hatte. Behörden, Ab
ordnungen, Vereine: sie alle haben sich ein
gefunden. Unter großer Feierlichkeit wird die
Besitzergreifung àrhessens durch Preußen ver
kündigt. Es donnern Kanonen; es läuten
die Glocken — das Sterbegeläut für einen viel-