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Herrn uns gründlicher betrachten konnten. Dann
ging's im Laufschritt, die hessischen Fahnen über die
Schulter, zur Brücke. Der Kurfürst war bereits aus
gestiegen und unterhielt sich mit den ihn umgebenden
Beamten. Als mein Vater an die Reihe kam, sah
ich, wie der Kurfürst die rechte Hand erhob und
deren Finger hin- und herbewegte. Vom Vater er
hielt ich die Erklärung. Bei der Namensnennung
war dem Kurfürsten, der, wie bekannt, über ein
>ganz außergewöhnliches Gedächtnis verfügte, ein
gefallen, daß er bei meinem Großvater Klavier
unterricht genossen hatte. Deshalb sagte ec in seiner
abgehackten Sprechweise zum Vater: „Äh, Vater —
Vater nicht viel gelernt haben." Bald darauf
kehrte der Landesherr durch die Stadt zurück und
fuhr über Großalmerode nach Kassel, in kaum einer
Stunde war alles vorbei. Es war wohl sein erster
und auch letzter Besuch in Witzenhausen — fünf
Jahre später war er Kurfürst von Hessen gewesen —:
Er schläft den ewigen Schlaf in seiner früheren
Residenz. Auf demselben Friedhof ruhen auch in
einem großen Massengrab die Gebeine seines Klavier
lehrers, bei dem er „nicht viel gelernt hatte".
Ostern 1862 wurde ich konfirmiert und kam dann
nach Kassel in die Schule. Die Jugendzeit in
Witzenhausen war damit zu Ende. Mein Vater
wurde dann bald versetzt, und man hatte mich in der
Heimat so gründlich vergessen, daß mein Name sogar
auf der Tafel der Mitkämpfer von 70/71 fehlte, die
in der Kirche aufgehängt ist. 'Trotz alledem — ich
bin und bleibe Witzenhäuser bis zum letzten Atem
zug. An demselben Altar, an dem ich getauft und
konfirmiert wurde, habe ich mir auch meine geliebte
Witzenhäuserin antrauen lassen. Als ich im Jahre
1921 nach so langer, langer Abwesenheit sechs
Wochen dort in der Sommerfrische zubrachte, da
bin ich wieder ganz Witzenhäuser geworden. Auch
äußerlich bin ich aufgenommen in die Gemeinschaft
der Witzenhäuser, denn mein Name ist auf der Tafel,
»durch das Entgegenkommen des Herrn Metropoli
tans, nachgetragen. Ich hatte damals ferner das
'Glück, dem feierlichen Gottesdienst beizuwohnen,
als die neue Orgel geweiht wurde, die die Kirche der
Munifizenz eines Witzenhäuser Bürgers verdankt.
Ich durfte mich damals zu meiner Freude stolz als
Trost im Herbst.
Daß dein Blick die bunte Bähe
Rein und liebevoll ergreife
Und nicht stets ins Weite spähe
Und nicht schweife
Ohne Ende,
Stehen graue Bebelwände
Vor der Ferne aufgerichtet.
Mild belichtet
Träumt um dich das Bächftgelegne,
Daß es dich mit Schönheit segne. . .
Daß du einmal noch km Herbst
Witzenhäuser fühlen, als ich bei dem prächtigen
lHandiverkerfest Gelegenheit hatte, mich zu über
zeugen, welcher Leistungen die Bürger meiner Vater
stadt fähig sind. Alle die lieben Plätze der Er
innerung in nächster und weiter Umgebung habe ich
damals wieder gründlich schätzen und lieben ge
lernt — es war meine schönste Sommerfrische. In
der Nähe zog mich immer wieder außer dem Jo
hannisberg der liebe Warteberg an. Unbekannt war
mir hier der neu angelegte Rundweg. Den Gipfel zu
besteigen, hatte wenig Zweck, weil die Aussicht ver
wachsen war. Dagegen zog es mich immer wieder
nach einem Fleckchen, etwas höher als der Kaiserstuhl
gelegen, hin. Daselbst befindet sich in dem steilen
Hang des Berges eine horizontale Stelle, von der
man eine fast vollständige Rundsicht hat von einem
Umfang und einer Schönheit, die kaum zu über
treffen ist. Das Werratal sieht man weit hinab, ein
gefaßt von seinen bewaldeten Höhen, nach Nord
westen begrenzt durch die südlichen Ausläufer des
Reinhardswaldes, nach Norden über dem lieben
Städtchen Badenstein, Sponberg, darüber Steinberg
und Schärfe, nach Nordosten vor dem Arnstein, im
Hintergrund der Harz mit Brocken, die „neun
Gründe", über denen die erhabene Ruine des Hau
stein erscheint. Tief zu unsern Füßen das liebliche
Gelstertal, in dem die Nebenbahn von Eichenberg
nach Walburg entlang führt, darüber die schön ge
staffelten Berge in der Richtung Allendorf, und nach
Süden abgeschlossen vom König der hessischen Berge,
dem mächtigen Meißner. Dann fast hinter uns nach
Süden der scharfe Kamm des Kausunger Waldes mit
dem Bilstein — wahrlich ein Fleckchen im Hessen-
land, das gekannt und besucht zu werden verdient.
Immer wieder zog es mich auf diesen wunderbaren
Aussichtspunkt, in Begleitung meines Freundes An
dreas und auch in Begleitung der mir am nächsten
Stehenden, der Gattin und der Tochter. Am liebsten
war ich ganz allein da oben. Ich gedachte der so
schönen, aber auch oft so traurigen Vergangenheit.—
Doch heitere und trübe Erinnerungen, sie liefen im
mer bei Betrachtung der herrlichen Heimat zu
sammen in dein Spruch Lynkeus des Türmers:
„Ihr glücklichen Augen, was je ihr geseh'n,
Es sei wie es wolle, es war doch so schön."
Ruhig zu dir selbst mußt kommen,
Wird die Weite dir genommen.
Deine Augen werden schwächer,
Klar stehn nur die nächsten Dächer,
Und du schaust ganz still und träumst,
Weißt nicht recht, was nun beginnen,
Wendest deinen Blick nach innen,
Ziehst geheime Herzensfächer
Lächelnd auf und kramst und räumst
In verstaubten Kostbarkeiten
Aus verblühten Jugendzeiten . ..
Heinrich Ruppel.