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wenigstens nicht mehr auf einem Kanapee schlafe.. .
Im Lauf der Woche traf er seine Vorbereitungen,
ain Sonntag war der Reifen fertig. Er hatte für
jeden Sonntag ein Licht daran befestigt, kleine dünne
gelbe Wachslichter, so wie sie zu Hans an jedem
Adventsreifen brennen. Sein Herz schlug hörbar,
als er die drei Treppen heraufstieg. Er fand die
Familie Zibulski 51t Hause. Es war genau so, wie
er es sich gedacht hatte. Die Hängelampe brannte
schon. Die Alte fas; in der Sofaecke, Fräulein Ba-
bette auf dem Stuhl an der Schmalseite.
„Der Herr Brauer!" rief die Babette. „Der
Brauer!" wiederholte August, und die Alte schob
ihre Brille hoch und wollte ihren Augen nicht trauen,
als sie jemand im Türrahmen stehen sah mit einem
grünen Kranz in der Hand.
Brauer entschuldigte sich verlegen: „Ich komme
nur, lveil ich der Frau Zibulska einen Advents
reifen aufhängen wollte — wenn ich auch immer
noch keine rechte Wand für mein Bild habe."
Ja das Bild! Er erfuhr, während er den Ad
ventsreifen um die Hängelampe legte und die fälligen
zwei Lichter anzündete, daß sich keiner recht von dem
Bild trennen mochte.
„Wenn ich nur dem Weibel, das vorn auf der
ersten Bank sitzt, mal die Spitzen von der Haube zu
rückschlagen konnte! Der möchte ich in die Augen
sehen!" sagte August. ;
„Ob er einen heiligen Gedanken fassen kann", er
eiferte sich Babette. „Der Herr Bräuer hat doch
wenigstens ein Streben in sich! Er ist schon von
einem Kanapee in ein Bett avanciert — und wenn
man's recht bedenkt — alles durch das Bild!"
„Ja — gewiß durch das Bildche!" lobte Frau
Zibulska.
„Nicht allein durch das Bild", gestand Wilhelm
Bräuer offenherzig. „Es kam auch davon, daß Sie
mir einen Ansporn gegeben haben, Fräulein Ba
bette."
„Nein, nein," wehrte Frau Zibulska, „es steckt
etwas Heiliges in dem Bild, etwas von zu .Hause —
und darum bringt einen das Bild zu einem guten
Vorsatz."
„Das nennst du einen guten Vorsatz, wenn der
August dem Frauchen die Schleierspitzen hochheben
möchte?" eiferte Babette.
„Allemal, wenn ein junger Kerl Verlangen da
nach trägt, einem hübschen Frauenbild in die guten
Augen zu sehen, so sollte das gelobt werden!"
Es konnte eigentlich August niemand wider
sprechen. Und Bräuer stimmte sogar so lebhaft zu,
daß er fortan an jedem Adventssonntag kain, um
ein neues Licht anzuzünden. Und es erging ihm,
wie es schon manch einem erging: er hatte ein Bild,
ein Mädchen und noch immer keine eigene Wand!
Denn als alle Lichter an seinem Adventsreisen
brannten — am letzten Advent, und ihm Fräulein
Babette das Haus ausschloß, damit er heimging,
blies er die Kerze, die sie in der Hand hielt, aus,
küßte sie aus den Mund, und sie erhob keinen
Widerspruch.
Niemand erhob Widerspruch ! Was hätte es auch
für einen Zweck gehabt? Es gibt Dinge, die sind
mächtiger als wir selbst; wer das leugnen will, weiß
nichts von dem Gesang der Engel in heiligen
Nächten.
Witzenhäuser Kirschen in Kassel.
Wie der Berliner nach Werder, so pilgert der
Kasselaner im Frühling alljährlich nach Witzen-
hausen, um sich an der Pracht der blütenschweren
Bäume zu berauschen, und der Witzenhäuser „Blüten-
sonntag" ist längst zu einer wohlberechtigten Be-
rühmtheit geworden, wie denn auch die saftigen
Witzenhäuser Kirschen selbst längst ihren tradi
tionellen Ruhm gefestigt haben. Die Verkehrsmög
lichkeiten der Gegenwart befördern heute diese köst
liche Frucht selbst über die hessischen Grenzen hin
aus, während vor Erfindung der Eisenbahn das Ab
satzgebiet auf die nähere Umgebung, namentlich auf
die Nachbarstädte Kassel und Göttingen beschränkt
war. Wenn wir lesen, daß schon um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts eine halbe Million tragbare!
Obst-, größtenteils Kirschenbäume Witzcnhausen um
grünten, können wir ermessen, welche Bedeutung
gerade die Witzenhäuser Kirschpflanzungen seit je für
die Stadt hatten.
Während der Absatz der Witzenhäuser Kirschen
namentlich in der nahen Residenz unter der hessischen
Regierung jegliche Förderung fand, umchte man den
Händlern während der französischen Zwischenherr
schaft doch einmal Schwierigkeiten. Am 26. Juni
1812 erschienen vor dem Witzenhäuser Maire (Bür
germeister) die Witzenhäuser Obstbauer und Obst
händler Jakob Hesse, Wilhelm Köberich und Christian
Meyer und gaben folgende Beschwerde zic Protokoll:
Bisher hätten sie ohne einiges Hindernis aus die
bestmöglichste Weise die selbstgezogenen Obstprodukte
hiesiger Stadt, namentlich Kixschen, in der Residenz
Kassel absetzen und verkaufen dürfen, jetzt aber würden
ihnen von der Polizeibehörde dortselbst allerhand
Hindernisse itnb Schwierigkeiten in den Weg gelegt.
Erst habe nian sie vom Schloßplatz, wo sie seit vielen
Jahren seil gehabt, weg nach dem Königsplatz, von
da wieder herunter nach deni Schloßplatz, von da
wieder zurück nach dem Königsplatz, und von da
auf den Gouvernementsplatz bei der großen Kirche
verwiesen, und es sei ihnen die Erlaubnis, das Obst
in den Straßen feil bieten und damit hausieren zu
dürfen, ganz versagt worden. Oftmals wären sie
ivegen schlechter Witterung und anderen Gründen
genötigt, ihr Obst auf die bestmöglichste Weise ab
zusetzen, oftmals würden sie auch von einzelnen
Familien in die Wohnungen bestellt, was ihnen
durch jene Verfügung versagt wäre. Sie glaubten
zwar nach den näheren Umständen, die dabei statt
gefunden, nicht, daß die vorstehende Polizeibehörde
an dieser Verfügung Anteil habe, sondern dieses eine