Full text: Hessenland (37.1925)

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Heimat. 
In vielen Märchen spielt die Springwurzel 
oder auch ein Zauberwort eine Hauptrolle. 
Durch die Anwendung eines dieser beiden Mit 
tel gelangt man in den Besitz unermeßlicher 
Schätze, die aber wieder versinken und auf 
ewig verloren sind, sobald man die Zauber 
wurzel verliert oder das wundertuende Wort 
vergißt. 
Auch das Zauberwort Heimat besitzt für viele 
die Kraft, Schätze ans Licht zu heben. Freilich 
öffnet sich nicht beim Klang dieses Wortes die 
Erde, um greifbare, goldschimmernde, metall 
klingende Kostbarkeiten vor dem Auge des 
Staunenden erscheinen zu lassen. Aber Schätze 
sind es dennoch, wenn auch nur solche von 
ideellem Werte, die vor dem geistigen Auge 
desjenigen sich auftun, der das zwingende Wort 
Heimat ausspricht, oder der es auch nur ans 
sprechen hört. 
Wem zeigte dieses zauberkräftige Wort nicht 
wenigstens ein Stübchen, dessen Wände viel 
leicht nur die Phantasie der Erinnerung rosig 
übermalt, sie in goldenem Licht erstrahlen läßt, 
das aber doch durchwärmt ist von Vatertrene, 
von Mutterliebe? - Halte die Springwurzel, 
das Wort Heimat, an die Tür deines Herzens. 
Seine Pforten werden sich öffnen, und du wirst 
staunen über die Fülle von Heimaterinnernn- 
gen, die als unverlierbare Werte in der Schatz 
kammer deines Herzens aufgespeichert ruhen. 
Du siehst sie wieder vor dir, die lieben 
Gassen und Straßen deiner Heimatstadt, deines 
Dorfes, in denen du, ein glückliches, behütetes 
Kind, umhertolltest. Du siehst sie wieder, die 
Gärten draußen, die vielleicht der Schauplatz 
mancher Jugendtorheit waren, wenn die roten 
Beeren, die blauen Pflaumen, die goldnen 
Apfel gar zu verführerisch auf des Nachbars 
sorgsam umhecktes Grundstück lockten, wenn die 
für so viele mideutliche Grenzlinie zwischen 
Mein und Dein auch noch vom dunklen Laub 
der Bäume überschattet wurde. Es erstehen 
vor deinem inneren Auge die Wiesen, auf 
denen du Blumen pflücktest, Schmetterlingen 
nachjagtest, oder auch, zur Zeit der Heuernte, 
dich einer mehr nutzbringenden Tätigkeit be 
fleißigen mußtest. Du trägst im fröhlichen 
Gedenken an deine Kindheit den Arbeitern das 
Frühstück oder den Nachmittagskaffee aufs 
Feld, sitzest bei ihnen in der Furche oder am 
Feldrain und verzehrst mit ihnen dein Stück 
lein Brot, das die Mutter als Tragelohn für 
dich mit einpackte und das nun unter dem 
Von Helene Brehm. 
blauen Himmel besonders köstlich mundet. Du 
vermeinst noch den Rauch des Kartoffelfeuers 
zu verspüren, in dessen Flammen du die kost 
bare Erdfrucht rösten ließest, und du ziehst 
noch im Erinnern deren aufsteigenden Duft 
begierig ein. Dein Heimatwald umschattet dich 
wieder, das Ziel manches Sonntagsspazier 
ganges mit Vater und Mutter, ans dem du 
mit laubgeschmücktem Hute heimkehrtest. Der 
Spiegel des Gewässers blitzt wieder vor dir 
auf, ohne das dir das Bild deiner Heimat ein 
unvollständiges sein würde. Du ertappst dich 
bei verbotenen Angelversuchen, du unternimmst 
wieder gefahrvolle Wasserfahrten im heimlich 
aus dem Hause geschleppten Backtrog. Du 
gräbst mit Hilfe deiner Spielgefährten kleine 
Abflußkanäle aus dem Bach, um die durstigen 
Wiesen zu tränken, und fühlst dich von der zug 
festen Hand des Müllers am Ohr gepackt, der 
sich die Schmälerung seiner Rechte durch euch 
nicht gefallen lassen will. Du empfindest wie 
damals das Unbehagen, das nasse Strümpfe 
verursachen, die dann zum Trocknen auf den 
Rasen gelegt werden müssen, und durchlebst 
noch einmal alle die Nöte, die du auszukosten 
hattest, bis die Grasflecken im weißen Sonn 
tagshöschen durch Aufstreuen von der Mutter 
entwendetem Mehl — ach, für nur kurze 
Zeit! — getilgt waren. Auf der Schulbank 
findest du dich wieder mit deinen Genossen, 
mehr oder weniger an den weisheitspendenden 
Lippen deines Lehrers hängend, für den du, 
auch dessen erinnerst du dich noch genau, da 
mals noch lerntest. Dein bosheitgeschwelltes 
Herz schlägt dir vielleicht heute noch höher beim 
Gedanken an alle die mutwilligen Streiche, 
durch die der Arme gequält wurde. Aber in 
diese Erinnerungen, die dir nicht gerade zur 
Ehre gereichen, klingt versöhnend, erst nur un 
deutlich, dann aber klar und voll anschwellend, 
das Geläut deiner Heimatglocken. Du gehst 
als Kind an Vater- oder Mutterhand zum 
Gotteshause, das du nun nicht mehr besuchtest 
seit — du weißt nicht, wie lange. Du sitzest 
ängstlich beklommen beim Gebraus der Orgel, 
bemüht, deine Bewegungsfreiheit heischenden 
Glieder ruhig zu halten, während der dir end 
los scheinenden Rede des Mannes im schwarzen 
Kleide, und atmest erlöst auf, als das Amen 
erklingt. An weihevolle, ernste Stunden denkst 
du, die dich zum Hause Gottes führten, und 
Schmerzenswege gehst du in deinem Erinnern, 
die draußen vor deinem Heimatort enden an
	        

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