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Heimat.
In vielen Märchen spielt die Springwurzel
oder auch ein Zauberwort eine Hauptrolle.
Durch die Anwendung eines dieser beiden Mit
tel gelangt man in den Besitz unermeßlicher
Schätze, die aber wieder versinken und auf
ewig verloren sind, sobald man die Zauber
wurzel verliert oder das wundertuende Wort
vergißt.
Auch das Zauberwort Heimat besitzt für viele
die Kraft, Schätze ans Licht zu heben. Freilich
öffnet sich nicht beim Klang dieses Wortes die
Erde, um greifbare, goldschimmernde, metall
klingende Kostbarkeiten vor dem Auge des
Staunenden erscheinen zu lassen. Aber Schätze
sind es dennoch, wenn auch nur solche von
ideellem Werte, die vor dem geistigen Auge
desjenigen sich auftun, der das zwingende Wort
Heimat ausspricht, oder der es auch nur ans
sprechen hört.
Wem zeigte dieses zauberkräftige Wort nicht
wenigstens ein Stübchen, dessen Wände viel
leicht nur die Phantasie der Erinnerung rosig
übermalt, sie in goldenem Licht erstrahlen läßt,
das aber doch durchwärmt ist von Vatertrene,
von Mutterliebe? - Halte die Springwurzel,
das Wort Heimat, an die Tür deines Herzens.
Seine Pforten werden sich öffnen, und du wirst
staunen über die Fülle von Heimaterinnernn-
gen, die als unverlierbare Werte in der Schatz
kammer deines Herzens aufgespeichert ruhen.
Du siehst sie wieder vor dir, die lieben
Gassen und Straßen deiner Heimatstadt, deines
Dorfes, in denen du, ein glückliches, behütetes
Kind, umhertolltest. Du siehst sie wieder, die
Gärten draußen, die vielleicht der Schauplatz
mancher Jugendtorheit waren, wenn die roten
Beeren, die blauen Pflaumen, die goldnen
Apfel gar zu verführerisch auf des Nachbars
sorgsam umhecktes Grundstück lockten, wenn die
für so viele mideutliche Grenzlinie zwischen
Mein und Dein auch noch vom dunklen Laub
der Bäume überschattet wurde. Es erstehen
vor deinem inneren Auge die Wiesen, auf
denen du Blumen pflücktest, Schmetterlingen
nachjagtest, oder auch, zur Zeit der Heuernte,
dich einer mehr nutzbringenden Tätigkeit be
fleißigen mußtest. Du trägst im fröhlichen
Gedenken an deine Kindheit den Arbeitern das
Frühstück oder den Nachmittagskaffee aufs
Feld, sitzest bei ihnen in der Furche oder am
Feldrain und verzehrst mit ihnen dein Stück
lein Brot, das die Mutter als Tragelohn für
dich mit einpackte und das nun unter dem
Von Helene Brehm.
blauen Himmel besonders köstlich mundet. Du
vermeinst noch den Rauch des Kartoffelfeuers
zu verspüren, in dessen Flammen du die kost
bare Erdfrucht rösten ließest, und du ziehst
noch im Erinnern deren aufsteigenden Duft
begierig ein. Dein Heimatwald umschattet dich
wieder, das Ziel manches Sonntagsspazier
ganges mit Vater und Mutter, ans dem du
mit laubgeschmücktem Hute heimkehrtest. Der
Spiegel des Gewässers blitzt wieder vor dir
auf, ohne das dir das Bild deiner Heimat ein
unvollständiges sein würde. Du ertappst dich
bei verbotenen Angelversuchen, du unternimmst
wieder gefahrvolle Wasserfahrten im heimlich
aus dem Hause geschleppten Backtrog. Du
gräbst mit Hilfe deiner Spielgefährten kleine
Abflußkanäle aus dem Bach, um die durstigen
Wiesen zu tränken, und fühlst dich von der zug
festen Hand des Müllers am Ohr gepackt, der
sich die Schmälerung seiner Rechte durch euch
nicht gefallen lassen will. Du empfindest wie
damals das Unbehagen, das nasse Strümpfe
verursachen, die dann zum Trocknen auf den
Rasen gelegt werden müssen, und durchlebst
noch einmal alle die Nöte, die du auszukosten
hattest, bis die Grasflecken im weißen Sonn
tagshöschen durch Aufstreuen von der Mutter
entwendetem Mehl — ach, für nur kurze
Zeit! — getilgt waren. Auf der Schulbank
findest du dich wieder mit deinen Genossen,
mehr oder weniger an den weisheitspendenden
Lippen deines Lehrers hängend, für den du,
auch dessen erinnerst du dich noch genau, da
mals noch lerntest. Dein bosheitgeschwelltes
Herz schlägt dir vielleicht heute noch höher beim
Gedanken an alle die mutwilligen Streiche,
durch die der Arme gequält wurde. Aber in
diese Erinnerungen, die dir nicht gerade zur
Ehre gereichen, klingt versöhnend, erst nur un
deutlich, dann aber klar und voll anschwellend,
das Geläut deiner Heimatglocken. Du gehst
als Kind an Vater- oder Mutterhand zum
Gotteshause, das du nun nicht mehr besuchtest
seit — du weißt nicht, wie lange. Du sitzest
ängstlich beklommen beim Gebraus der Orgel,
bemüht, deine Bewegungsfreiheit heischenden
Glieder ruhig zu halten, während der dir end
los scheinenden Rede des Mannes im schwarzen
Kleide, und atmest erlöst auf, als das Amen
erklingt. An weihevolle, ernste Stunden denkst
du, die dich zum Hause Gottes führten, und
Schmerzenswege gehst du in deinem Erinnern,
die draußen vor deinem Heimatort enden an