Aus dem Leben eines kurhessischen Beamten.
.Nach den Aufzeichnungen des Geh. Regierungsrats Karl August Fritsch?
Laut Justizministerialbeschlusses vom 15. Oktober
1842 zum Referendar bei dem kurfürstlichen Ober
gericht zu Kassel ernannt, wurde ich am 25. Oktober
in einer Sitzung des Zivilsenats, bei dem ich zu
nächst beschäftigt wurde, vom Obergerichtsdirektor
Engelhard verpflichtet. Die knrhessischen Obergerichte
hatten damals, was die Zivilprozeßsachen betrifft,
teils in erster, zum größten Teil aber in zweiter
Instanz zu urteilen. Die Geschäfte wurden bei
dem zu jener Zeit bestehenden schriftlichen Ver
fahren in Sitzungen erledigt, an denen die Referen
dare, in der Regel wöchentlich zweimal, im blauen
Dienstfrack teilzunehmen hatten. Jeder Referendar
wurde für die von ihm zu bearbeitenden Suppliken-
Sachen (schriftliche Eingaben in Zivilprozeßsachen)
einem Mitglied des Obergerichts als ständigem
Korreferenten zugeteilt, während für die ihnen zur
Bearbeitung überwiesenen Sprnchsachen je ein oder
auch zwei Mitglieder des Gerichts als Korreferenten
besonders bestellt wurden. In den Sitzungen hatten
die Referendare die Vorträge der Gerichtsmitglieder
mit anzuhören, die von ihnen selbst bearbeiteten
Spruch- und Suppliken-Sachen, soweit diese über
haupt des Vortrags bedurften, aber ihrerseits vor
zutragen. Nebenher, namentlich, wenn uninteressante
Sachen vorgetragen wurden, beschäftigten sie sich
auch mit Abschreiben von Präjudizien oder unter-
terrichteten sich in einem Buche der im Sitzungs
zimmer befindlichen Bibliothek über die eine oder
andere Rechtsfrage, die in ihre eigenen Arbeiten ein
schlug. Diese Art der Beschäftigung war für mich ge
rade keine besonders vorteilhafte. Bei meiner Natur,
die zur Umständlichkeit und — ich möchte sagen,
übergroßen — Gründlichkeit neigte, wäre es viel
besser gewesen, wenn ich zunächst bei einem Unter
gericht eingetreten und in dessen geschäftlichem
Treiben etwas zurecht gestoßen und zu rascherem
Denken und Arbeiten genötigt worden wäre. Bei
dem Obergericht konnte ich dagegen meinem Hang
zum gründlichen Arbeiten, namentlich bei Abfassung
der Relationen, nur zu sehr nachgeben. Das hatte
den Nachteil, daß ich leicht zu weitläufig wurde
und auf die einzelnen Arbeiten zuviel Zeit ver
wendete, so daß mir für das Studium der hessischen
Gesetzgebung zu wenig Zeit übrig blieb.
Alsbald nach meiner Bestellung zum Referendar
trat ich einem Kränzchen bei, das die Mehrzahl
der damaligen Kasseler Obergerichts - Referendare
wöchentlich an einem Abend in den Privatwohnungen
. ' * Karl August Fritsch wurde 1821 zu Treysa als
Sohu eines Majors geboren und starb am 28. März 1919 !
zu Kassel. (Vgl. „Hessenland" 1919, S. 82.)
der Teilnehmer bei einer Tasse Tee vereinigte. In
diesen Zusammenkünften wurden zunächst juristische
Fragen besprochen, zum Schluß aber meist in heiterer
Weise sich unterhalten. >
Nach etwa eineinhalbjährigem Verbleiben im
Zivilsenat wurde ich im Frühjahr 1844 in den
Kriminalsenat des Obergerichts versetzt. Hier ging
es schon lebhafter zu. Bei dem damaligen schrift
lichen Jnquisitionsverfahren wurden in denjenigen
Strafsachen, für die die Obergerichte zuständig
waren, die Urteile auf Grund der von den Unter-
gerichten geführten Untcrsuchungsakten erteilt. Nur
in den ganz schweren Fällen fand noch eine sog.
Hauptuntersuchung durch ein damit beauftragtes
Mitglied des Kriminalsenats statt, dem ein Referen
dar als Protokollführer beigegeben wurde (so ich
dem Obergerichtsassessor Rothe in der Unter
suchungssache gegen den Raubmörder Gebhard). Den
Referendaren wurden zahlreiche Spruchsachen zur
Bearbeitung zugeteilt, in denen sie, sofern nicht
eine Zurücksendung der .Akten an das betreffende
Untergericht zur Weiterführung und Vervollständi
gung der Untersuchung für nötig befunden wurde,
alsbald das Urteil entwarfen.
Nach meiner Rückkehr vom Urlaub im Sep
tember 1845 wurde ich in den Zivilsenat zurück
versetzt und demnächst nebst Referendar Schultheis
dem Obergerichtsrat Gleim als Protokollführer bei
der ihm übertragenen „Visitation" des hiesigen
Landgerichts beigegeben. Es war dies eine ziem
lich anstrengende, aber lehrreiche Beschäftigung.
Teils mit Rücksicht auf meine Gesundheitsver
hältnisse, teils zu meiner Ausbildung in den unter
gerichtlichen Geschäften erbat ich zu Anfang 1846
die Gestattung, mich ein halbes Jahr lang bei dem
Justizamt Kirchhain zu beschäftigen. Sie wurde mir
für die Zeit von Ostern bis Ende Oktober 1846
erteilt. Infolgedessen begab ich mich am 19. oder
20. April nach Kirchhain. Dortselbst war Gleim,
ein Verwandter des Obergerichtsrats Gleim, Justiz-
beamter. Er war ein tüchtiger Jurist und Beamter,
der später zum Obergerichtsrat in Marburg und
weiterhin zum Kreisgerichtsdirektor in Rotenburg
befördert wurde und im Januar 1892 in Kassel
als Pensionär verstorben ist. Er nahm mich in
Kirchhain freundlich auf und trug zu meiner Be
lehrung bereitwillig bei. Aktuar bei dem Justiz
amt war Fritzen, ein guter und bescheidener älterer
Herr, der nicht studiert hatte. Er erzählte mir,
daß er als westfälischer Rekrut im Jahre 1813 in
das von meinem Vater befehligte Bataillon ein
getreten und durch dessen Güte aus der Kompagnie