ich mehr als rote, weiße oder gelbe. Ich weiß, ich
habe einmal im Walde als Enzian geblüht, ganz
bestimmt nicht als Vergißmeinnicht oder Wege
warte; ich weiß das genau."
Immer noch schwieg mein Vater, ohne meinen
Reden Einhalt zu tun.
„Auch sind meine Augen blau, genau so blau
wie deine, Vater, und wie die des Mönches auf
dem Bild, das an der Wand am Fußende deines
Bettes hängt. Wenn ich außerdem zurückdenke, ist
es mir, ich hätte als Meise vor dem Fenster einer
Klosterzelle gesungen."
Ich hatte Widerspruch erwartet und fand nur
einen Schweigenden. Nach einer Weile fragte mein
Vater: „Wie kommst du dazu, unsere Augen mit
denen des Mönches zusammenzustellen?"
„Sind sie nicht so wie die deinen?"
Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, ohne
eine Antwort abzuwarten, ihn zu fragen: „Kann
test du den Mönch gut?"
Er antwortete mit wehmütiger Feierlichkeit:
„Den kannte ich seit ewigen Zeiten."
Und dann, ganz seinen Erinnerungen hingegeben,
schien er vergessen zu haben, daß er ein halbes
Kind vor sich hatte: „Auf einer Wanderfahrt durch
den Dünn, an einer jener seltsamen Quellen, die
dort in unheimlicher Stärke aus dem Erdinnern
drängen, trafen wir uns. Er wallfahrtete nach einem
heiligen Ort, ich war auf dem Wege zu meiner
Braut, wollte Hochzeit machen. Er betete im Wan
dern, ich sang. Er ging an der rechten Seite des
Weges, ich an der linken. Als wir uns zuerst,
an jener Quelle haltmachend, in die Augen sahen,
erschraken wir beide. Es war wie ein Erkennen.
Wir tranken beide durstig aus dem Quell; ich
schöpfte mit einem silbernen Becherlein, das ich
bei mir trug, einem Geschenk meiner Braut, er
trank aus der hohlen Hand. Ich wollte mein
Vesperbrot mit ihm teilen, er lehnte freundlich ab
und ließ sich an den Beeren genügen, die am
Waldessaum wuchsen. Wir sprachen nicht viel da
mals miteinander. Ich dachte an die Seligkeit,
die mir bevorstand, und fand, ein Mönch könne
kein Verständnis dafür haben, ein Mönch, der
fastend und betend nach einem Gnadenbild wallte.
Dennoch sagten wir am Ausgang des Waldes, als
sich unsere Wege schieden: „Auf Wiedersehen!"
zueinander und vergaßen uns nie, ich nicht den
Beter, er nicht den Weltsänger. Nach einer Reihe
von Jahren führte mich das Schicksal nach einer
Stadt, einem Bischofssitz. Ich leitete dort ein
^Krankenhaus und erwarb mir das Vertrauen eines
großen Kreises. Eines Tages wurde ich in das Kloster
gerufen, das, einen Büchsenschuß von der Stadt
entfernt gelegen, dem heiligen Bernhard geweiht
war. Der Prior war erkrankt. Es handelte sich
um eine Blutvergiftung, die durch eine Verletzung
an der rechten Hand hervorgerufen war und die
einen operativen Eingriff erheischte. Ich erkannte
in dem Erkrankten jenen Mönch von der Quelle
am Dünn. Das Lächeln, das bei meinem Anblick
trotz der furchtbaren Schmerzen über seine Züge
glitt, offenbarte mir, daß auch ich erkannt sei.
Es gelang mir, dem Klosterarzt erfolgreich beizu
stehen. Nach bangen Wochen, in denen das Leben
des Priors mehr als einmal nur noch an einem
Haar zu hängen schien, genas er. Von da an
wurden wir Freunde. Es war gerade nach dem
Tod meiner ersten Frau. Der Gram um ihren
Verlust hatte mich stark mitgenommen. Die Muhme
sorgte für mein leibliches Wohl und nahm sich des
Kindes an. Aber mein Herz war einsam und fror.
Da war es, daß ich ihm einmal wieder begegnete,
dem Bruder von Ewigkeit her. Nun lernte ich die
Größe und Schönheit reiner Freundschaft verstehen.
Unermeßliches Glück habe ich in diesen Zeiten ge
nossen, da wir miteinander Hand in Hand gingen
durch den Wald, durch den Klostergarten, durch
die stillen Straßen der Stadt oder über blühende
Wiesen im Abendschein und durch reifendes Korn
im Mondschein. Wir erinnerten uns an alles, was
war, was wir in Sternenweiten erlebt, in Jahr
tausenden — nein, Jahrmillionen — nein, in un-
ermeßbaren Zeiten erlebt. Wir wurden reich einer
durch den andern. Das Böse, das wir durchkämpft,
das Gute, das wir errungen, das Schöne, das
wir ersehnt, es wurde größer und erst verständlich
durch die Gemeinsamkeit des Erlebens. Bruder
Leid, Schwester Freude, Schicksal, das uns lieb
wurde, und über allem Gottes Vaterauge.
Dann kam ein Tag, da wir scheiden mußten. Der
Tod holte zu einem Schlag aus; wir schieden: Ge
borenen ist der Tod gewiß, Gestorbenen die Geburt.
Es gab nur jenes Bild aus seinen Jugend
jahren. Je mehr ich ihm in die Augen sah, desto
gewisser wurde mir, daß alles Wahrheit war, daß
es kein Auslöschen gibt. In diesem Bild lebt ein
Hauch seiner Seele."
Ich hatte meinem Vater zitternd vor Aufregung
zugehört. Das Bild lebte oder vielmehr etwas lebte
in ihm, in diesen schönen, tiefen blauen Augen.
Jetzt sagte ich: „Ich fürchte mich vor dem Bild.
Ich habe immer Angst, es könne an zu reden
fangen, eine Frage tun."
„Furcht sollst du nicht empfinden vor diesem
Bild, nur Ehrfurcht, und den Glauben, daß die
ganze Ewigkeit dein ist."
„Finde ich in der Ewigkeit meine Mutter
wieder?"
„Du hast deine Mutter nie verloren, du wirst
es eines Tages freudig erschreckend erfahren."
„Und —" ich zauderte, ich wußte nicht recht,
wie ich die Frage formen sollte; dann aber sagte ich
mutig: „Und meinen Bruder Eberhard, werde ich
ihn sehen? Wird er zu uns zurückkommen?"
Mein Vater sah über mich hinweg und fuhr sich
mit dem Handrücken leise stöhnend über die Augen:
„Wer weiß, wann und wie wir einen, der zurück
fiel, wiederfinden? Wiederfinden — das ist gewiß,
aber es kann sein, daß uns dies Wiederfinden alle
Qualen der Hölle bringt. Verbindet uns doch
Schuld noch fester mit einer Seele als Leid und