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die Farbe der Augen, des Haares, der bartlose
Mund, das schön gemeißelte Kinn, nur daß alles
weicher und milder bei meinem Vater erschien.
Eine sonderbare Scheu verbot mir, Fragen nach
dem Bild zu stellen. War ich mit dem Bild allein
im Zimmer, befiel mich eine unbeschreibliche Furcht
vor diesen Augen, die mich fragend und anklagend'
anblickten.
Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben.
Sie war meines Vaters zweite Frau, die er sieb
zehn Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau nahm,
ein Mann von sechsundfünfzig Jahren. Aus seiner
ersten Ehe lebte ihm ein Sohn, von dem ich kein
Erinnerungsbild hatte, da er mit achtzehn Jahren,
gleich nach meiner Geburt, ausgewandert war. Wes
halb? Ich wußte es nicht. Erst später hörte ich,
daß ihn Verfehlungen forttrieben, die mein Vater
nicht glaubte verzeihen zu können.
Mein Vater sprach niemals von diesem Sohn,
und die Muhme, die seit dem Tod der ersten Frau
im Haus war und auch blieb, als meine Mutter
für ein kurzes Jahr an der Seite meines Vaters
lebte, hob nur die Schultern und schüttelte ab
wehrend den Kopf, wenn ich nach diesem Bruder
fragte. Ich wuchs sehr einsam auf. Mein Vater
beschäftigte sich zwar viel mit mir, ließ sich Rechen
schaft von meinem Tagewerk geben, von meinen
Fortschritten in der Schule, aber Altersgenossen,
mit denen ich hätte Freundschaft schließen können,
besaß ich nicht. Wir bewohnten ein Haus vor
dem Tor allein. Mein Vater hatte zu ebener
Erde sein Sprechzimmer, seine umfangreiche Bib
liothek und mancherlei Sammlungen, von denen
mich die seltener Mineralien am meisten ansprach.
Stundenlang konnte ich vor den Versteinerungen,
den seltsamen Pflanzenabdrücken und schönen Kri
stallen sitzen, mit einem Gefühl, das ich nicht be
schreiben konnte, das mir aber eine Verwandtschaft
mit diesen Gebilden wahrscheinlich sein ließ.
Jin ersten Stock des Hauses befanden sich die
Wohnräume, und zwar hielt mein Vater darauf, daß
alles so blieb, wie es zu Lebzeiten seiner ersten
und seiner zweiten Frau gewesen war. Den Haus
rat, den beide mitgebracht, ließ er unangetastet
so stehen, wie ihn die Frauen aufgestellt hatten.
Man sprach vom Zimmer der seligen Wilhelmine
und von dem der seligen Elisabeth. Es hat für
mich immer eine wehmütige und etwas unheim
liche Stimmung ausgelöst, wenn mein Vater von
diesen beiden Frauen mit gleicher Liebe und gleicher
Bewunderung sprach, nicht etwa in einer gemil
derten Trostlosigkeit über ihren Verlust, sondern so,
als ob ihn eine ganz große Dankbarkeit erfülle,
daß er sie besessen und eigentlich nicht verloren
habe. Es gab von jeder der Frauen ein Bild.
Ich gestand mir neidlos zu, daß Wilhelmine die
schönere gewesen sein müsse. Die Zimmer waren
so verteilt, daß in der Mitte ein geräumiges Balkon
zimmer lag, in dem wir alle Mahlzeiten einzu
nehmen pflegten. Rechts davon befand sich das
Zimmer der ersten Frau, dahinter ein Schlaf
zimmer, das ich mit der Muhme teilte. Zur linken
Hand war das meiner seligen Mutter und dahinter
das Schlafzimmer meines Vaters, von dem aus
eine Tür nach einer überdachten Galerie führte, die
das Vorderhaus mit einem Seitenflügel verband.
Dieser enthielt einen Gartensaal, in dem mein Vater
schöne und seltene Gewächse überwinterte: Zimmer-
akazien und andere Mimosenarten.
Ich konnte viel und wahllos lesen, da sich, wie
gesagt, mein Vater infolge einer umfangreichen
ärztlichen Praxis nur abends mit mir beschäftigte.
Die Muhme aber hatte so viel in Haus und Garten
zu tun, daß sie zufrieden war, wenn ich ihr nicht
im Wege stand, vor den Füßen herumlief, wie sie
zu sagen pflegte. Infolgedessen befand ich mich in
einem Chaos widerstreitender Gefühle. Aus einer
Furcht heraus, daß mir das Lesen, das zurLeidensthust
geworden war, verboten werden könne, unterdrückte
ich Fragen, obgleich sie mir auf der Seele brannten.
So hatte ich in meines Vaters Bücherei ein altes,
zerlesenes Heft gefunden, das von der Seelen
wanderung handelte. Es war von einem begeisterten
Anhänger dieser uralten Lehre geschrieben, ein Ver
such, die Gerechtigkeit alles Geschehens zu recht
fertigen.
Ich war damals vierzehn Jahre alt, ein lang
aufgeschossenes, mageres Ding, das sich schon mit
vielen Zweifelsfragen herumschlug, dem der Kon
firmandenunterricht die Unsicherheit der Gefühle
noch erhöhte, dem eine Mutter fehlte, die mit liebe
voller Zärtlichkeit die junge Seele beruhigt hätte.
Gott und Welt, Himmel und Erde, Geborenwerden
und Gestorbensein — alles das beunruhigte mich,
besonders nachts in mondhellen Nächten, in denen
mich der Schlaf floh. Der Inhalt jenes Buches
gab meinen Gedanken eine ganz andere Richtung.
Oh, es erschien mir so begreiflich. Die Menschen
kamen und gingen, wanderten und wandelten sich
sich. Bald war es mir ganz gewiß, daß ich schon
oft auf diesem Erdenstern geweilt hatte, und ebenso
natürlich erschien es mir, daß, ehe meine Wesen
heit menschliche Gestalt annahm, sie im Stein, in
der Pflanze, im Tier vorhanden war. Ich spann
mich in diese Gedanken ein und war beseligt.
An einem Abend, an dem mein Vater in einer
besonders guten Stimmung war, weil er einen
sehr schwer krank gewesenen Menschen als Ge
nesenen aus seiner Behandlung entlassen hatte,
faßte ich mir ein Herz und sagte: „Ich glaube,
als ich zum erstenmal auf diese Erde kam, war ich
ein blauer Basaltstein."
Er sah mich verwundert an: „Wie kommst du
auf diesen Gedanken?"
„Wenn ich an einer Basaltsäule im Walde vor
beigehe, muß ich sie streicheln, und wenn ich sehe, wie
die Menschen unseren schönen Basaltbruch abbauen
und zu Pflastersteinen zurechthauen, erfassen mich
Kummer und Zorn."
Er sah mich schweigend an, den Kopf schüttelnd,
nicht mißbilligend, sondern eher ermunternd. Dar
um fuhr ich fort: „Und alle blauen Blumen liebe