Full text: Hessenland (36.1922)

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es uns vergönnt, in dasselbe Wasser zu tauchen, 
dasselbe Wasser zu schöpfen.. Denn nur die Ufer 
sind 'das Feste, Unverrückbare, die Wellen rollen 
vorüber. Nie die nämlichen, nie auch nur sich 
völlig gleichend. 
* 
Über die Stoppeln hatte der Herbstwind gepfiffen, 
hatten die Jägerbüchsen geknallt. Die Kartoffel 
feuer hatten in den frühe verglimmenden Abend 
hineingeraucht. An den Obstbäumen der Straßen 
hatten Leitern gelehnt, und in weißem dichten 
Nebelschleier war jeder schöne Herbstmorgen ins 
Tal gezogen. Länger und länger hatte die Sonne 
gebraucht, bis sie, eine glanzlose Scheibe zuerst, 
durch die Schwaden drang, bis sie endlich auf dem 
bronzebraunen Herbstlaube der Eichen des Forstes 
mit vollem Lichte lag und in den Millionen Tropfen 
funkelte, die in den Netzen hingen, die sich silberig 
zwischen dem braunen Heidekraut ausgespannt. 
Die Arbeit in der Hütte ging ihren alten Schritt. 
Die Ofen glühten, die kleinen Krane über den 
Formen taten, wie stets, knarrend und ächzend ihre 
Arbeit. Freundüch wie stets, nur mit einem leisen 
Schatten um die Augen, fast, als wolle er mit 
doppelter Liebe um sein Werk, seine Hütte, sorgen, 
war ihr Herr durch die Hallen gegangen. Noch 
war keine Entscheidung gefallen ber der Regierung. 
Nur gerüchtweise hatte man vernommen, daß an 
den entscheidenden Stellen keine Stimmung für 
das Projekt vorhanden sei. Wer sollte sich auch für 
den stillen, weltverlassenen Waldwinkel interessieren? 
Andere Entwürfe, die bessere Rentabilität ver 
sprachen oder die gewichtigere Fürsprecher hatten, 
oder aus denen man politisches Kapital zu schlagen 
hoffte, d i e würden wohl vorgehen. Auf alle Fälle 
mußte jede Möglichkeit ins Auge gefaßt werden. 
Während ein Entwurf durchgearbeitet ward von ge 
eigneten technischen Kräften für eine völlige Moder 
nisierung des alten Hüttenwerkes, ward zugleich das 
erste Projekt für den Neubau in der Großstadt, an 
geschlossen an die dort zusammenlaufenden Bahnen, 
einer nochmaligen Prüfung unterzogen! Dort ward 
ein Grundstück „an Hand" gekauft! 
Spätnovemberregen rieselte nieder. Zwischen den 
rinnenden Tropfen flog schon hier und da ein nasses 
Flöckchen zu Boden, flog gegen die Scheiben des 
Geschäftszimmers und glitt langsam daran herab. 
Durch die frühe Dämmerung glühten die Lampen. 
Nur ein Knittern umschlagender Papiere, ein leises 
Geräusch schreibender Federn. Das Ticken der Uhr. 
Sonst tiefste Stille im Zimmer. Schrill gellte in 
die Ruhe hinein die Glocke des Fernsprechers. Ein 
Angestellter meldete sich und wandte sich sofort an 
den Besitzer des Werks. Der Inhaber der Fabrik 
im alten Schlosse verlangte ihn persönlich zu sprechen. 
Hastig griff jener den .Hörer. Er meldete sich. Nur 
wenige Worte von drüben. „Abgelehnt?" Er trat 
einen Schritt näher zum Apparate. 
Noch eine längere Ausführung von drüben folgte. 
Wie eine Bagatellsache hatte ein vortragender Rat 
im Ministerium die Bahnangelegenheit bei Seite 
geschoben. Einige Interessenten hatten sich noch 
mals persönlich bemüht. Die Regierung habe näher 
liegende Aufgaben. 
Schweigend trat der Herr an seinen Platz zurück. 
Dann wandte er sich plötzlich und blickte hinaus in 
das Abendgrau, durch das leise schwebend nun 
weißes Gewirre herniederrann. 
Lange, lange. 
Leiser noch als zuvor war es in dem Raume ge 
worden. Nur die alte Uhr tickte in gleichmäßigem 
Schlage. 
Als der Herr des Werkes zu seinem Arbeitstische 
zurückgekehrt war, sah man ihn über Berechnungen, 
Risse und Pläne gebeugt sitzen. 
Die Uhr tickte, tickte. — 
Aus Heimat und fremde. 
Hessischer Geschichtsverein. In der Januar 
sitzung des Vorjahres war eine Denkschrift des Regierungs 
rats Hempel über den „Kurhessischen Staatsschatz 
und Laudemialfonds und die Geldleistungen Preußens 
für die Provinz Hessen-Nassau" zur Verlesung gekommen. 
Ter Verfasser versuchte darin nachzuweisen, daß unsere 
Provinz unter Preußen eine Entwicklung genommen habe, 
die das Kurfürstentum nie hätte erreichen können. Diese 
Denkschrift gab dem Hessischen Volksbund Veranlassung, 
am letzten Unterhaltungsabend des Vereins (6. November) 
durch Schriftsteller W. M. I d e eine Gegenschrift zur 
Verlesung zu bringen. Darin wird zu Eipgang betont, 
daß in keiner Weise der Beweis dafür erbracht sei, daß 
die Geldbestände von 1830 dieselben waren, die im 
vorausgegangenen Jahrhundert für hessische Söldner 
truppen von England gezahlt wurden. Die Lüge von 
den „verkauften Landeskindern" sei seit Presers Schrift 
über den „Soldatenhandel in Hessen" endgiltig widerlegt. 
Völlig unbewiesen sei die Behauptung der Hempelschen 
Denkschrift, der kurhessische Hausschatz sei 1866 in 
preußische Verwaltung, „wahrscheinlich in den Besitz 
der preußischen Krone" übergegangen, nnd es sei „an 
zunehmen", daß die von den höfischen Agnaten gestellten 
Ansprüche auf Zahlung von Jahresrenten mittels dieses 
Hausschatzes befriedigt wurden. Ebenso befremdlich wie 
diese Wahrscheinlichkeitsrechnung sei die Behauptung, der 
Staatsschatz sei dem Regierungsbezirk Kassel zur Ver 
wendung für bestimmte Zwecke als ein ihm gehöriges 
Vermögen überwiesen und nach dem Zeugnis eines Un 
genannten stets im Interesse Kurhessens verwendet worden, 
und die fernere Behauptung, der Laudemialfonds sei 
gleichfalls nach der Annexion dem kurhessischen Lande 
erhalten geblieben. Dem gegenüber sei folgendes fest 
zustellen : Preußen fand 1866 außer vielen anderen 
Werten in Hessen vor einen Hausschatz von 6 Millionen 
Talern, einen Staatsschatz von 6 Millionen Talern und 
ein Guthaben von mehr als 5 Millionen Talern bei der 
Landeskreditkasse. Preußen hat diesen Haus schätz, 
der nur in seinen Zinsen dem in Kurhessen regierenden 
Landesherrn zustand, im Kapital aber dem Volke ge 
hörte, dem preußischen Staatsvermögen einverleibt und 
mit der Abfindung der Agnaten des Kurhauses die steuer 
zahlende Bevölkerung belastet. Der Staatsschatz, 
dem politisch einflußlosen Kommunallandtag auf demütige
	        

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