Full text: Hessenland (36.1922)

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nach dem Schlüssel unter dem Spiegel und sah 
betroffen auf, als sie statt seiner den bloßen Nagel 
fühlte — der Schlüssel war nicht da. Heftig schrak 
sie zusammen, blickte auf den Fußboden, auf die 
Fenstersimse — der Schlüssel lag da nicht. Nun 
fuhr sie mit der Hand in die Laschst. lief in die 
Kammer nebenan und durchsuchte das Kleid, das 
sie gestern im Backhaus getragen — nirgends eine 
Spur von dem wichtigen Gegenstand. Sie riß das 
Fenster auf und ries dem Markus entgegen. Nein, 
er wußte nichts vom Schlüssel. 
In heißer Angst lief die Blümchen ins Back 
haus — sollte sie den Schlüssel nicht mit heim- . 
genommen haben? Der Backofen war fest ver 
schlossen, auch hier vom Schlüssel nichts zu sehen. 
Sie schrie den Bäcker an, der hob nur spöttisch die 
Achsel. Beschämt, verzweifelt begann die Angst 
gequälte den Backraum abzusuchen, machte sich, 
gebückt, den Blick am Boden, auf den Heimweg, 
kehrte wieder zurück. Nun kamen auch schon andere 
Frauen, um ihre Töpfe zu holen. Da brach die. ! 
Blümchen in Tränen aus. Ein ums andre Mal 
beteuerte sie, daß sie den Schlüssel mitgenommen 
und zu Hause unter den Spiegel gehängt habe. 
Mehr und mehr Frauen kamen heran, eine jede ging 
in den Backraum, rüttelte am Schloß und suchte 
den Boden ab. Auch Männer kamen nun herzu — 
alle redeten und gestikulierten, die Aufregung wuchs 
von Augenblick zu Augenblick. Ta schlich auch die 
Blümchen wieder heran, schier gebrochen, nachdem 
sie daheim zum drittenmal alle Ecken und Winkel 
vergebens durchsucht hatte. „Denn misse mer uff- 
breche lasse!" rief da der dicke Sandel, den bereits 
der Hunger plagte. „Ja, uffbrechen lassen!" meinten 
auch verschiedene andere. Aber da erboste der Heß, 
einer der Ältesten, sich mächtig. „Uffbrechen an 
Schabbes, wo mer soll kein Werk tun?!" schrie er 
so laut, daß ihm die heisere, krähende Stimme über 
schlug. Rollenden Auges drängte er sich durch die 
Menge, seine kleine, magere Gestalt reckend, um 
sich das Ansehen eines Propheten zu geben. Die 
meisten verstummten, nur der Adolf und der Iwan, 
die als Viehhändler oft weitere Reisen unternahmen 
und im Gerüche freierer Ansichten standen, mur- ! 
melten widerspruchsvoll uud wechselten unwillige 
Blicke. Der Bäcker kam herbei und setzte eine Frist 
für die Räumung des Ofens, er mußte für die 
Sonntagskuchen der Christenfrauen einheizen. Da 
schnellte die allgemeine Erregung auf den Siede 
punkt empor. Die Gebärden und Bewegungen wur 
den vielsagender, stürmischer, die Stimmen lauter, 
gereizter. Nur die Blümchen saß ganz zerbrochen 
auf einem Reisighaufen vor dein Haufe und wand 
sich wie in Schmerzen, krank und elend war ihr 
zu Sinne. 
Wie von ungefähr kam der Kallmen daher. Er 
blieb stehen, als er den Wirrwarr sah und empfand 
ein Behagen, das den knurrenden Magen eine 
Weile besänftigte — Rache ist süß. 
„Nu, was is? Was is los?" fragte er dann. 
Niemand antwortete ihm. Er lächelte hämisch, 
schadenfroh, seine Hand liebkoste den kleinen Schlüssel 
in der Hosentasche. „Nu," sagte er dann zur Blüm 
chen, in deren Nähe er stand, „nu, so bin ich's doch 
nich allein heut, der Fasttag hat — Fasttag am 
Schabbes!" 
Die Blümchen fuhr aus. „Kallmen," sagte sie 
und reckte feierlich, wie zum Schwur, die Rechte 
uach oben, „Kallmen, wenn der Schlüssel gefunden 
würde, sollten Se den ganzen Schabbes bei mev 
' essen - nich nur diesen Schabbes — drei andre 
noch!" 
„Bei uns auch drei Schabbes!" sagte die Frad- 
chen, die es hörte, „bei mir auch drei!" rief die 
Taumer, „und bei mir einen", der Aron, der 
Witwer war. Der Ruf pflanzte sich bis in das 
Backhaus hinein fort, und alle kamen heraus. Auf 
kurze Zeit war das allgemeine Mißgeschick vergessen, 
man lachte und. rief immer wieder: „Bei mir auch 
drei!" 
Dem Kallmen verschlug es den Atem. Ganz 
blaß war er geworden und er mußte die Hand aufs 
ungebärdige Herz drücken. Mit geschlossenen Augen 
lehnte er an der Lehmwand des Backhauses. „Lang 
sam, langsam," rief er, „nich so schnell. Also, bei 
der Blümchen drei Schabbes, bei der Fradchen drei 
Schabbes, bei dem Aron drei" — „Nee, bei mir 
nur ein Schabbes!" schränkte der Aron lachend ein. 
„Bei der Taumer drei", fuhr der Kallmen fort 
und zählte dabei an den Fingern. — Es kam eine 
ansehnliche Ziffer heraus. „Ach," sagte er dann, 
„so brauch' ich mein Leben lang an keinem Schabbes 
mehr zu fasten!" 
Beseligt lächelte er, seine Hand fuhr iu die 
Hosentasche. Aber dann stockte er, und sein Gesicht 
wurde bitter ernst — wenn er jetzt den Schlüssel 
herausgab, war alles verloreu. Nicht nur an jedeur 
Schabbes würde er fasten müssen — dem Hunger 
tod würde er verfallen sein. 
„Das is alles gilt und schön mit die drei Schab 
bes, aber, wenn der Schlüssel sich nich find ?!" 
Lachen und Heiterkeit waren plötzlich verflogen, 
der Ernst der Lage wurde wieder drückend emp 
funden und laut beredet. Traurig schlich der Kall 
men sich hinweg. Wie den Schlüssel vorlegen? Un 
auffällig, so daß kein Verdacht aufkam? Am Hause 
der Blümchen blieb er stehen, die Tür war offen — 
wenn er den Schlüssel geschwind, wie er ihn an 
sich gebracht, drinnen wieder von sich täte? Un 
möglich. Die Blümchen hatte wohl in ihrer Woh 
nung das Unterste zu oberst gekehrt. Wenn der 
Schlüssel sich jetzt darin fand — nein, das ging 
nicht. Langsam, grübelnd ging er weiter. Von Zeit 
zu Zeit blieb er stehen — kein rettender Gedanke 
tvollte ihm kommen. Die kleinen Mädchen der 
Blümchen begegneten ihm, sie wollten wohl heim, 
zum Essen. Die erhielten nun auch kein Mittag 
brot, die armen Dinger, dachte er mitleidig. Alsi 
sie vor ihm standen, fiel Kallmens Blick auf das 
Perltäschchen der Jüngeren, und plötzlich kam ihm 
ein Einfall. Er beugte sich nieder und sprach mit
	        

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