Full text: Hessenland (35.1921)

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nur zwei Notenreihen nebeneinander ^erliefen, von 
Zahlen umsprungen. Schwerfällig und schleppend 
war sein Spiel. Sein ganzer Körper zitterte dabei. 
Aber ein Verstoß kam niemals vor. 
Wenn dann der Gottesdienst aus war und der 
Henrichvetter als letzter den Kirchsteig unter der 
Linde herniederkam, schauten sich die Leute nach ihm 
um. Er hat s wieder gut gemacht, er kann's noch, 
hieß es da, und sein Lob ging von Mund zu Mund. 
Eines schöllen Tages schickte mich mein Vater 
zum Henrichvetter, daß er mich im Geigenspiel 
unterrichte. Eine alte Geige, die manche Kirmes 
durchjauchzt hatte, wurde mein eigen. Da hat 
denn mein Fiedelbogen seine Nadel manchmal 
irre gemacht und der Fingerhut manchen Takt vor 
lneinen Ghren getanzi. Die Jacken und Hosen 
aber, die unter soviel Sang und Klang genäht 
wurden, mNssen besonders gut gehalten haben. 
Es ist etwas Großes, wenn Frau Musika zu 
einem sagt: Ich will dich segnen. Dann macht 
sie in der Regel auch das andere wahr: Du sollst 
ein Segen sein. So ist auch der Henrichvetter in 
seiner Gemeinde ein Segen gewesen wegen seines 
Handwerks wie seiner Kunst. So oft ich meine 
Geige ansehe, denke ich an ihn, und ich höre sein 
Waldhorn im Kirmeszug und die Geige aus dem 
Holunderbusch und sehe seine Gestalt hernieder 
schreiten von der Kirche still und würdevoll. Und 
ich grüße ihn aus tiefster Seele wie einen Sonntag 
aus Iugendland. 
Aus Heimat und fremde. 
Hessen-Nassäuisches Wörterbuch, über 
bas Arbeitsjahr 1920 schreibt Professor W r e d e -Mar 
burg in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie 
der Wissenschaften vom 3. Februar 1921. Tie im vor 
jährigen Bericht ausgesprochene Sorge, ov es bei der 
zunehmenden Teuerung gelingen werde, die Wörterbuch 
arbeit auch in diesem Jahre auf der Höhe zu halten, 
ist durch den Ausschuß des Hessen-Nassauischen Wörter 
buchs einigermaßen gebannt worden, der am 9. Ok 
tober in Marburg zusammentrat. Die Beratung hatte 
das Ergebnis, daß seitens der Akademie und des Bezirks 
verbandes Kassel eine Erhöhung der vertragsmäßigen 
Zuschüsse zunächst für das laufende Jahr gewährt werden 
konnte. Ferner machte Geheimrat Prof. Dr. Behaghel 
uns Hoffnung auf Gießener Zuwendungen, und heute 
darf mit besonderem Danke über eine erhebliche Summe 
quittiert werden, die die Gießener Hochschulgesellschaft 
durch die Liberalität eines ihrer Mitglieder, des Groß 
industriellen Hildebrand, unserm Wörterbuch zur Ver 
fügung gestellt hat. Dazu ist weiter eine hochherzige 
Zuwendung des Prof. Dr. Bach mann in Zürich, 
Chefredakteurs des Schweizerdeutschen' Idiotikons, ge 
kommen. Es bleibt zu hoffen, daß auch für die kom 
menden Jahre sich Mittel und Wege finden werden, 
um die Arbeit am Wörterbuch gleichmäßig durchzu 
halten. In dieser Erwartung wurde von der genannten 
Konferenz beschlossen, den Druck eiues knappen für weite 
Kreise bestimmten Hesseu-Nassauischen Idiotikons in die 
Wege zu leiten, neben dem der Marburger Zettelapparat 
als stets benutzbares Wörterarchiv (zur Zeit 160 000 
revidierte Zettel) ständig auszubauen ist und der wichtige 
wortgeographische Kartenschatz, der im Berichtsjahr kaum 
hat vermehrt werden können, weiter gefördert werden 
soll. Unserer Arbeit wird ferner zustatten kommen, daß 
das dialektologische Institut, das sich durch die glück 
liche Vereinigung des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs 
mit dem Sprachatlas des Deutschen Reichs hier in 
Marburg herausgebildet hat, vom Minister zur Zentral 
stelle für deutsche Mundartenforschung erhoben worden 
ist. Die Eingänge für das Wörterbuch sind im letzten 
Jahre zwar nicht so zahlreich gewesen wie im Vorjahre, 
haben aber dafür an innerem Gehalte gewonnen. Allen 
den eifrigen Sammlern, die sich jetzt in schöner Gleich 
mäßigkeit über das ganze Wörterbuchgebiet verteilen, 
sei aufs neue herzlich gedankt. Die unmittelbaren Mit 
arbeiter hier am Orte sind die alten geblieben: die 
Studiepassessoren Dr. Kroh und Dr. Witzel (jetzt in 
Frankfurt), Frl. Dr. Bertholt», Oberlehrer Canstein, 
die Sekretärin Frl. Krahmer. Wissenschaftlicher und 
heimatsfreudiger Idealismus ließen ihren Eifer für das 
Wörterbuch nicht erlahmen, auch als ihren Leistungen 
während des Jahres der äußere Lohn nicht immer ent 
sprechen konnte. Ihrem Interesse wird es nicht am 
wenigsten zu danken sein, wenn das Wörterbuch trotz 
der Schwere der Zeiten mit unverminderter Hoffnungs 
festigkeit ' in das neue Arbeitsjahr hineingeht. 
, He s s i scher G e s ch i ch t s v e r e i n. Der letzte 
Herrenabend dieses Winters am 7. März brachte zunächst 
einen Vortrag des Geheimrats Scheibe, der die Be 
setzung Frankfurts durch die Franzosen im Jahre 1792 
und deren Vertreibung behandelte und durch Mitteilung 
von Aktenauszügen, Briefen des Generals Custine, Auf 
rufen, Schreiben Frankfurter Bürger, hessischen Rap 
porten usw. einen Zeitabschnitt lebensvoll wieder aus 
leben ließ, der manchen Vergleich mit der Gegenwart, 
aber auch trostreiche Ausblicke zuließ. Bankbeamter 
Ernst W o r i n g e r berichtete über einen viertägigen 
Besuch Petersburgs anläßlich seiner Rückkehr aus sibi 
rischer Gefangenschaft: der Vortragende sah in der 
dortigen Jsaakskathedrale, deren Wand früher zahlreiche 
Trophäen trug, u. a. ein Schild,, wonach hier auch 
ein Stadtschlüssel Kassels hing. Es handelte sich um 
einen Torschlüssel der Stadt, der 1813 dem mit seinen 
Truppen einrückenden russischen General Tschernitscheff als 
Zeichen der Übergabe eingehändigt war und von diesem 
durch Vermittlung des Grafen Wintzingerode und Ber- 
nadottes Kaiser Alexander I. ausgehändigt war, der ihn 
nach Petersburg überführen ließ. Eine lebhafte Aus 
sprache, an der sich namentlich Professor Dr. Fuckel, 
General Eisen traut und Oberbibliothekar Dr. Hopf 
beteiligten, brachte die erneute Erörterung über die 
Lage der von Bonifatius gefällten Donareiche. Bekannt 
lich hatte im Vorjahr Archivrat Dr. Schäfer sich 
dahin ausgesprochen, daß nur das heutige Hofgeismar 
als derjenige Ort in Frage komme, wo Bonifatius aus 
dem Holz der gefällten Eiche eine Kapelle erbaut habe. 
Dem ist nun neuerdings in den „Fuldaer Geschichts 
blättern" Dechant Jestädt, der bekannte Geistliche am 
Fritzlarer Dom, entgegengetreten, der wieder lebhaft für 
Geismar bei Fritzlar eintritt. Für Jestädt, der mit. 
der Vorgeschichte der Gegend und den örtlichen Ver
	        
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