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Und endlich kenne ich noch eine Spielform, die man
als formelhaft bezeichnen könnte: das reizende, in
Kassel leider fehlende Lied Klein Annchen in
der Mühle" wird in Oberstein so ausgeführt,
daß die beiden Darsteller unter den gleich einem
Torbogen aufgehobenen Armen zweier anderer
Kinder stehen — sicherlich eine Erbschaft aus dem
Brückenspiele. Wir erkennen also deutlich zwei Aus
gangspunkte: hier die Handlung des Liedes selbst,
dort einen vorher bestehenden Spielbrauch. Es ist
sehr reizvoll, die verschiedensten Übergangsformen
zu beobachten, und überhaupt verdient die ganze,
Phantasie, Bewegungsanmut und Geschmack gleicher
maßen fördernde Art dieser dramatischen Spiele alle
Ermutigung. Man braucht da keineswegs ängstlich
zu sein: auch was dem gebildeten Erwachsenen
blutrünstig und roh erscheinen möchte, wie M a -
riechen saß auf einem Stein (Nr. 257)
oder das Humpelbein, braucht dem Kinde so wenig
zu schaden wie die Menschenfresser oder die grau
samen Strafgerichte des Märchens. Die Aufnahme
fähigkeit scheint unbegrenzt zu sein: in Hessen-
Darmstadt kommt ein scheinbar so unkindliches Stück
wie Christinchen ging in Garten (Erk
und Böhme. Liederhort 1 S. 14f., I. Lewalter,
Volkslieder aus Niederhessen 1 Nr. 27) als Spiel
vor 11 12 , und anderwärts sind sogar geistliche Volks
lieder in dieser Verwendung bezeugt.
Mit diesen dramatischen Volksliedern stehen in
enger Verwandtschaft die Nachahmungsspiele.
Bei einzelnen wie dem kettenartigen Der Schnei
11 Zeitschr. d. Per. f. Volkskunde 28 S. 36 f.;
s. a. C. Hehler, Hessische Landes- und Volkskunde II
S. 419: Hier sitz ich armes Mädchen ... In Eschwege:
... Saß eines Abends kühle auf einem harten Stein ...
Da das anmutige Spiel in Hessen noch wenig beachtet
zu sein scheint, will ich eine Aufzeichnung aus Utphe
mitteilen (D. V.-A. A 3296):
22. Schön Hannchen an der Mühle
Saß eines Abends kühle
An ihrem Rad und spann.
Kaum hat sie angefangen,
Da kam ein Herr gegangen,
Ein edler, jung und schön.
Ach Mädchen, hast du Eltern? —
Ach nein, ich habe keine. —
So komm mit mir ins Schloß!
In Samt und Edelsteine
Sollst du gekleidet sein.
In Vadenrod, im Kr. Alsfeld, wurde früher ein Über
rest beim Spinnen gesungen (D. V.-A. A 979): l. Muß
immer fleißig spinnen, muß mir mein Brot verdienen,
muß immer fleißig sein. 2. M. i. fl. arwenn, m. m. m.
Br. erwerben, m. i. fl. s.
12 D. V.-A- 3377 Fauerbach bei Nidda, bloßes
Kreisspiel; 3375 Reinheim, Kr. Dieburg, in mimischer
Ausführung.
der hat eine Maus (Nr. 288) kann man
sogar in Zweifel sein, ob es nicht eigentlich der
ersten Reihe zuzuweisen ist. Im ganzen darf man
sagen, daß diese Stücke den Kindern von vornherein
als Spiele überkommen sind: das gilt ganz gewiß
von ursprünglichen Volkstänzen wie dem „Winker"
Mit dem Köpfchen nick nick nick (Nr. 311)
und umgewandelten Gesellschaftsliedern wie I ch
bin kein Freund von Traurigkeit (Nr.
306), aber auch der so kindlich anmutende Spiel
eingang Seht, ihr Herrn u.nd Damen,
seht ihr meinen Fuß (Nr. 280) gehört eigent
lich den Erwachsenen zu. Gesellschaftsspiele sind
überhaupt in großer Zahl in den Besitz der Kinder
übergegangen, ältere und neuere. Dahin gehören
Reigenspiele mit Gegenbewegung wie die Braut-
werbu.ngsspiele Nr. 271, 276, wovon Nr.316
Sechzig Gänse haben wir gekauft eine
kindliche Nachbildung sein mag, und alle die rokoko
zierlichen Stücke wie das S ch a tz s u ch e n (Nr. 259,
283, 287), das A m o r s p i e l mit seiner An
deutung des „Kissentanzes" (Nr. 284); ferner das
Kettenspiel vom Kirmesbauern mit seiner
Sippe (Nr. 250, 302, 315) und das Plump sack
spiel (Nr. 269). Kindlicher erscheinen polonäsen
artige Reigen wie Macht auf das Tor und
die Schwarze Köchin (Nr. 267, 274), zu
denen man auch Stücke wie W i ck e l b a u m und
Säckeflicken (Nr. 279, 292, 301) hinzunehmen
kann, bei denen der Text hinter der Bewegung
zurücktritt; aber auch hier weist sich etwa Der
Abt ist nicht zu Hause (Nr. 258) mit seinem
kulturgeschichtlichen Hintergrund als übernommen
aus. Die Hobelbank (Nr. 976), der Rund
gesang (Nr. 982) und alle Arten von Pfänder
spielen (Nr. 979, 980, 993 usw.) sind ebenso
unbestrittenes Eigentum der Erwachsenen wie Taler
(Ringlein), du mußt wandern (Nr. 989).
Am unverdächtigsten sind Fangspiele wie Nr. 313,
die Ringelreihen mit Niederhocken (Nr. 255,
289, auch 272 i3 , 298) sowie die Spiele, bei denen
der Kreis durch Umdrehen eines Kindes allmählich
aufgelöst wird wie im Siebenjahrreigen. Aber volle
Sicherheit besteht kaum jemals. Es ist auch nicht
zu vergessen, daß manche Stücke gleich dem Dorn
röschenspiel Kunstdichtungen für Kinder sind, durch
den Kindergarten 'vermittelt. Und so einsam
wir spielen (Nr. 286) ist wahrscheinlich aus
einem Fröbelschen Spiellied entstanden; das hübsche,
aber sichtlich künstliche Lied Wir kommen mit
Trommel- und Pfeifenklang (Nr. 315),
mit dem ich früher nichts anzufangen wußte, hab
iS Der Wortlaut scheint aus einem derben Trutz
reime heischender Kinder zu stammen, vgl. z. B. Zeitschr,
f. österr. Volkskunde 12 , 153,