„Ich bin arm und schäme mich meiner Armut nicht.
Was sollt' ich mich schämen, Euch das zu sagen?
Aber solang ich lebe und schaffen kann, soll mein
blinder Bruder Euer Gnadenbrot nicht essen. Es
würde ihm bitter genug schmecken."
So fand Hanndieter im Häuschen seines jüngsten
Bruders, der ein Herz für ihn hatte, freundliche
Aufnahme. Und des Bruders Frau sah den Blinden
als ihren eignen Bruder an. Hannhein trug ihm
manches Bündel Weiden herzu und sah unter den
geschickten Händen Hanndieters sich Körbe allerart
vollenden. Und es kam ein großer Segen in das
kleine Haus.
Nur einen Schmerz sollte der Blinde noch erleben.
Das war, als sein guter Bruder in den Krieg mußte,
der kein Ende nahm.
Da geschah es eines Tages, daß die Seele des
Blinden mit einer kurzen, schmerzlichen,Erschütte
rung das schwere Dunkel durchbrach und sich zur
himmlischen Helle erhob. Hanndieter starb. Wie
ein nachtumfangener Falter das Gespinst durchbrichi
und an der Sonne seine strahlenden Flügel ent
faltet, so löste sich die Seele des Blinden aus
ihrem leiblichen Gebundensein, erhob sich auf glän
zenden Schwingen hoch und höher ins Licht und
schwebte die unabsehbar langen, goldnen Himmels
gassen entlang, um an die Pforte der ewigen Selig
keit zu kommen. Da begegnete ihm die Seele seines
jüngsten Bruders, der am selben Tag und zur
selben Stunde im Kampf gefallen war. Und sie
erkannten einander.
„Bruderseele, woher?" fragte die Seele desBliud-
gcwesenen.
„Von Ppern. Eisen durchschlug gewaltsam die
Hülle meines Leibes, daß meine Seele gen Himmel
entschwebte."
„Und wohin, Bruderseele?"
„Zu Gott — wie du."
„Gib mir die Hand! Du hast mich auf Erden
geführt, ich will dich im Himmel führen."
„Weißt du die Pforte denn?"
„Ich werde sie finden."
Und so gingen sie selbander, Gott zu suchen, und
schauten die Herrlichkeit des .Himmels in ehrfurchts
vollem Schweigen. Rückwärts — weit, weit am
Morgenberg — sahen sie eine Schenke liegen, die
trug ein silbernes Trinkhorn im Schild, zierlich und
fein, wie die Mondsichel abends über dem Tannen
wald. Da kehren die müden Erdenpilger aus ihrem
Weg zu Gott zu kurzer Rast ein. Und als sie sich
wieder umwandten, ragte das hohe Himmelsportal
vor ihnen. Das war aus lauter glitzerndem Edel
gestein in allen Farben und also köstlich, daß sie
zauderten, es aufzuklinken oder auch nur leise, leise
anzuklopfen. Es war eitel Glanz um sie, der
blendete ihre Augen. Als sie sich an das helle
Leuchten gewöhnt hatten, sahen sie neben der
Himmelspforte eine Seele stehen und warten. Und
sie erkannten darin die Seele ihres ältesten Bruders,
ohne groß zu erstaunen, als müsse das so sein.
„Bruderseele, woher?" fragte die Seele des Blind
gewesenen.
„Aus meinem brennenden Haus. Mein Weib
putzte sich vorm Spiegel und ließ die Bodenluke
am Giebel aus. Funkenwurs einer Schnellzugs
lokomotive entzündete das Heu. Das Haus brannte
lichterloh. Da trieb sie mich in die qualmerfüllte
Stube, das Geld zu retten. Ich hielt es schon in
der Hand, als ein stürzender Balken mich erschlug."
„Und wohin, Bruderseele?"
„Zu Gott — wie ihr."
„So komm!" sagte die Seele des Blindgewesenen,
faßte sich einen Mut und klopfte an. Sankt Peter
tat auf und erfragte ihr Begehr. Das taten sie ihm
zu wissen.
„Wer seid ihr?" fragte der Himmelspförtner.
Sie gaben ihm Bescheid. Indessen die Seele des
ältesten Bruders mit großen Worten kund tun
wollte, wer sie sei, und was sie alles getan habe,
kam Gottvater selbst herbei, zu sehen, welche Erden
gäste Einlaß in den Himmel heischten. Und als er
sie sah, wies er die Seele des Ältesten streng ge
bietend ab, die andern winkte er gütig herzu. Doch
sie blieben v o r der Pforte stehen; denn sie wußten
nicht, ob sie eintreten und die Bruderseele von
dannen gehen lassen sollten. O, diese tiefe, tiefe
Not! Da ging die verlorene Bruderseele die abend
rotgoldene Himmelsgasse hinab, weit und immer
weiter und entschwand schon fast am Rand des blau
verdämmernden Himmelsplanes. Sie sahen ihr noch
nach, als Gott ihnen zum zweitenmal einzutreten
gebot. Aber die Seele des Blindgewesenen zögerte,
ohne ihre Bruderseele in die Herrlichkeit des Him
mels einzugehen, und wandte sich schmerzlich nach
der entschwindenden um.
Da schossen fern grellrote Lichter über den Rand
des Himmelreiches und flackerten in zuckenden Strei
fen empor, als tasteten die feurigen Hände des
Bösen herauf. Und vor dem schaurigen Wiederschein
der Höllenflammen hob sich dunkel ein schattenhaftes
Wesen ab: die verlorene Bruderseele. Da streckte
die Seele des Blindgewesenen die Arme nach ihr
aus, stöhnte wie in Todesnot und trat wieder zurück
von der Schwelle der Himmelstür, auf die sie
schon den Fuß gesetzt, trat wieder zurück, der
Bruderseele rettend nachzueilen.
Sankt Peter war brummig und rasselte ungedul
dig mit den großen Schlüsseln. Denn das hatte er
all seine tausend Lebtage nicht gesehen, daß sich
eine Seele von der güldnen Himmelspforte schnur
stracks zum grausigen Höllentor wendet.
Aber die Stimme Gottes, des Herrn, erscholl
wie eine jubelnde Posaune durch die blauen Weiten
des Himmels mit ihrem Sternenglanz: „Komm
wieder, verlorene Seele! Komm wieder!"
Und sie wandte sich und wandelte wie träumend
zurück. Niemand führte sie; denn sie war sehend
geworden und trat zu ihren Bruderseelen, in Demut
Gottes Spruch erwartend. Und Gott sprach zu ihr:
„Mein Kind, du hast helle Augen gehabt und bist
doch blind gewesen im Leben, hast das Beste nicht